Weil Deutschland bei den Reparationslieferungen, die die Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg verhängt hatten, in Rückstand geraten war, besetzten französische und belgische Truppen am 9. Januar 1923 das Ruhrgebiet. Die „Dorstener Volkszeitung“ stellte damals in einem Artikel die bange Frage, ob und wann auch die Lippestadt unter „Fremdherrschaft“ geraten würde. Es sollte nicht allzu lange dauern: Am 15. Januar 1923 in der Frühe trafen von Kirchhellen her belgische Soldaten in Begleitung etlicher französischer Panzerwagen ein, zogen durch die Lippestraße und machten an der Lippebrücke halt.
Damit begann vor genau 100 Jahren für die Bewohner der Lippestadt sowie Hervests (damals noch zum Amt Lembeck gehörend) und Holsterhausens (Amt Altschermbeck) eine zweieinhalb Jahre andauernde Zeit, die geprägt war von (passivem) Widerstand gegenüber den Besetzern auf der einen und zahlreichen Übergriffen gegenüber der Bevölkerung und Drangsalierungen gegenüber hiesigen Volksvertretern und Behörden.
Im von Martin Köcher geleiteten Dorstener Stadtarchiv findet sich aus dieser Zeit eine 14-seitige „Chronik der belgischen Besetzung“, die die damaligen Ereignisse auflistet. In neuer Zeit haben der Historiker und frühere Geschichtslehrer am Gymnasium Petrinum Hans-Jochen Schräjahr in der Buchveröffentlichung „Dorstener Zeitreise“ und die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ im Band „Dorsten zwischen Kaiserreich und Hakenkreuz“ die stadtgeschichtlich bedeutsamen Geschehnisse aufgearbeitet.

Die belgischen Soldaten, die damals in der Gaststätte Freitag Quartier bezogen hatten, fanden demnach am 15. Januar 1923 eine „tote Stadt“ vor - denn der damalige Bürgermeister Bernhard Lappe hatte tags zuvor vor 1.000 Menschen auf einer Marktplatz-Kundgebung die Dorstener aufgefordert, „im Falle einer Besetzung in den Häusern zu bleiben, Türen und Fenster zu schließen und die Rollläden herabzulassen“. In Betrieben und Verwaltungsstellen wurde zeitweise die Arbeit niedergelegt.
Tage später verhängten die Belgier den Ausnahmezustand über die Stadt, mit Ausweiskontrollen, Gepäckdurchsuchungen am Bahnhof, Verkehrssperrungen, Grußpflicht gegenüber den neuen Herren über die Stadt und einem zeitweiligen Verbot der „Dorstener Volkszeitung“. Am 25. Januar traf eine Radfahrer-Kompanie in Dorsten ein, die „direkt brutal auftrat“, wie es in der damaligen Chronik heißt, und mehrere Bewohner mit Schlägen verletzte.

Inzwischen hatte es mehrere Truppenablösungen und vor allem -aufstockungen auf belgischer Seite gegeben, ein Hauptquartier schlugen die Offiziere im damaligen Petrinum-Gebäude auf. Die Ruhrgebiets-Besetzung, die im Norden des Ruhrgebiets eigentlich an der Lippe endete, wurde im Fall Dorstens am 31. Januar räumlich ausgeweitet - weil sie Zugriff auf die Zechen Baldur und Fürst Leopold und damit auf die dort geförderte Kohle haben wollten, rückten die Belgier auch in Holsterhausen und Hervest ein. Wohnungen, Hotels und Schulen wurden beschlagnahmt, der Bahnhof Hervest wurde besetzt.
Den Protesten der jeweiligen Gemeindevertreter im Raum Dorsten begegneten die Besatzer mit Verhaftungen. So wurden Bürgermeister Lappe und der Oberbahnhofsvorsteher Hapke am 20. Februar 1923 zum Kriegsgericht nach Sterkrade gebracht, weil sie mehrere Befehle nicht ausgeführt hatten. Beide wurden zwar am gleichen Tag in Gartrop wieder freigelassen - aber für einige Zeit aus Dorsten ausgewiesen. Auch Stadtverordneten erging es ähnlich.

Die Chronik im Stadtarchiv listet für diese Wochen und Monate des Jahres 1923 zahlreiche „Rohheiten“, körperliche Misshandlungen, Zerstörungen und Beschlagnahmungen durch die Belgier auf. Ein Dorstener Fuhrmann samt seinem Fahrgast wurden erschossen, weil seine Pferde nicht sofort auf den Ruf von belgischen Soldaten stehen blieben.
Als mehr und mehr Dorstener streikten, verschärften die Belgier den Belagerungszustand noch. Weil dabei auch alle Wirtshäuser geschlossen wurden, besuchten Dorstener die Gaststätten auf der Hardt - damals zum nicht belagerten Gahlen gehörig. Dennoch: Am 7. Juli 1923 umstellten belgische Soldaten das Hardter Wirtshaus Kolancyk, drangen in das Gebäude ein und schossen auf die in Panik flüchtenden Gäste ein. Sechs Mann erlitten dabei Verwundungen: Bauch-, Knie-, Becken- und Oberschenkelschüsse.
Zwischenzeitlich hatten die Gemeindevertretungen in Hervest und Holsterhausen scharf gegen den Einmarsch feindlicher Truppen protestiert. Zwischen beiden Ortsteilen und Dorsten wurde daraufhin ein Pass- und Visumszwang eingeführt. Die Lippe blieb Zollgrenze. Da Hervest und Holsterhausen weiterhin als „unbesetzt“ eingestuft wurden, was den Handel betraf, mussten alle Waren, die von dort nach Dorsten gebracht wurden, verzollt werden. Die Lippebrücke wurde für den Verkehr gesperrt. Der Dorstener Bahnhof kam unter französisch-belgische Verwaltung, das führte zu weiterem Chaos.

Auch nördlich der Lippe kam es zu tätlichen Übergriffen, wurden Anwohner auf offener Straße von Gewehrkolben traktiert, es wurden Frauen vergewaltigt. Ein Sägerei-Besitzer erlitt durch die Torturen durch belgische Soldaten so starke psychische Störungen, dass er in eine Nervenheilanstalt eingeliefert werden musste. Die Chronik im Stadtarchiv vermeldet im Dezember 1923 zwei weitere Todesschüsse an der Lippebrücke und vermerkt, dass „auf einer Liste der mit belgischem Militär verkehrenden Weiber 58 Namen stehen“.
Für Aufsehen sorgte am 10. August 1923 der Vorfall um den Bergmann Leo Sadecki, der an dem Tag am Lippeufer in Hervest seine Ziegen gehütet hatte. Ohne Warnung wurde er von belgischen Soldaten vom anderen Ufer aus erschossen. 1933, zum zehnjährigen Jahrestag seines Todes, wurde ihm in Hervest ein Denkmal gewidmet und es wurde von den Nazis eine Straße im Stadtteil nach ihm benannt, die heute noch existiert.

Das Jahr 1924 verlief deutlich ruhiger. Die Schikanen hatten nachgelassen, die Belgier traten aus dem öffentlichen Leben fast vollkommen zurück, der Kommandant und seine Offiziere benahmen sich gegenüber der Bevölkerung meist anständig. Mit Franz Lürken konnte ein neuer Bürgermeister in Dorsten seine Geschäfte ohne weitere Störungen aufnehmen.
Im September 1924 fiel die Zollgrenze an der der Lippe, Anfang Oktober erschien auch die Dorstener Volkszeitung wieder regelmäßig. Holsterhausen und Hervest wurden am 10. Dezember 1924 geräumt, in Dorsten dauert es etwas länger: Mit einem Fackelzug vom Lippetal zum Marktplatz und viel Flaggenschmuck endete in der Lippestadt die zweieinhalbjährige Besatzungszeit mit einer großen „Befreiungsfeier“.

Übrigens: Eine kurzzeitige, aber damals für viel Aufsehen sorgende Veränderung bewirkte die Ruhrbesatzung für Dorsten und die Ämter Altschermbeck und Lembeck im Mai 1925. Die Luftverkehrsgesellschaft „LURAG“ eröffnete damals vor 30.000 Zuschauern am Freudenberg (heutige Kreuzung B 224/B 58) einen Übergangs-Flugplatz, weil ihr Haupt-Flugplatz im Ruhrgebiet wegen des „Ruhrkampfes“ nur eingeschränkt nutzbar war.
Flugplan
Von Dorsten aus war es laut Flugplan möglich, nach Berlin, Frankfurt und Amsterdam zu fliegen, auch Post und Fracht wurden befördert. Ende August 1925 - nach Ende der Ruhr-Besetzung - wurde der Flughafen wieder geschlossen, der kurzzeitig zu den größten des Reiches gehört hatte.
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