Die Nervosität steigt. Die letzten Probentage haben begonnen. Am Samstag, 25. März, hat „Der Vorleser“ am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel Premiere. Für Pia Böhme (28) wird es eine Feuertaufe. Zum ersten Mal führt sie im Abendtheater Regie. Und das mit einem Theaterstück, das zwei berühmte Vorbilder hat.
Da ist die Romanvorlage von Bernhard Schlink. Ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, wenn es um die Fragen von Schuld und Verantwortung in der Folge des Holocaust geht. Mit dem Roman wurde Schlink bekannt, in mehr als 50 Sprachen wurde es übersetzt. Und dann ist da der Film mit Kate Winslet, die viele vor Augen haben, wie sie als Hanna eine ungewöhnliche Liebesbeziehung mit einem Jugendlichen beginnt. Pia Böhme aber geht ihren eigenen Weg.
Den Film mit Kate Winslet und David Kross hat die Regisseurin auch gesehen. Zum Glück ist das schon länger her, so erzählt sie. Und jetzt habe sie sich ihn nicht noch einmal angeschaut. Denn sie will eigene Bilder finden für die Geschichte von dem 15-jährigen Michael und der 36 Jahre alte Hanna.
Regisseurin ist „tierisch nervös“
Am Anfang sei sie sehr nervös gewesen, so erzählt sie. Mit den Proben habe sich dann aber Normalität eingestellt. Pia Böhme arbeitet seit der Spielzeit 2029/20 als Regieassistentin am WLT, hat zwei Kindertheaterproduktionen auch schon als Regisseurin verantwortet. Sie kennt die Schauspieler, weiß, wie sie arbeiten, wie sie reagieren. Das sei ein großer Vorteil, sagt sie. Aber dennoch, jetzt, wo sie verantwortlich ist, ist die Arbeit eine andere. „Man wägt stärker ab“, sagt sie. Und sie werde jetzt, wo es Richtung Premiere geht, wieder „tierisch nervös“.
Aber da ist auch Freude, das spürt man im Gespräch. Zum Theater wollte Pia Böhme schon immer. Und ganz bewusst nicht auf, sondern hinter die Bühne. Schon während des Studiums in Bochum an der Ruhr-Universität hatte sie das Gefühl, „dass man, wenn man sich mit den richtigen Themen auseinandersetzt, etwas zurückgeben kann, etwas Gutes für die Welt tun kann.“
Jetzt am Landestheater, das durch die ganze Republik tourt, hat sich eine andere Erkenntnis herauskristallisiert: „Es ist schon gut, wenn man den Leuten eine schöne Zeit bieten kann. Das Stück kann etwas ganz kleines Nettes sein, aber wenn die Leute rausgehen, haben sie gute Laune.“
Schuld und Erinnerung
Etwas Kleines, Nettes, wird ihr Regiedebüt natürlich nicht – zu ernst sind die Fragen, die „Der Vorleser“ aufwirft. „Bernhard Schlink hat aus der Perspektive der ersten Generation nach den Naziverbrechen geschrieben“, sagt Pia Böhme. Die 28-Jährige ist schon ein paar Generationen weiter. „Wie kann man die Geschichte für meine Generation übertragen“, das ist eine Frage, die sich gestellt hat, als sie den Auftrag bekam, Regie bei „Der Vorleser“ zu führen.

Schuld und Verantwortung sind zwei Begriffe, die im Zusammenhang mit „Der Vorleser“ genannt werden. Pia Böhme setzt auf einen anderen Begriff: Erinnerungskultur. „Wie soll man in die Zukunft schauend mit Verbrechen umgehen?“, das ist eine der Fragen, die sie sich stellt – und im besten Fall auch den Zuschauern.

Geschichte bewege sich in Wellen, sagt sie, und dass man aufstehen müsse, wenn jemand unterdrückt werde. Oder etwas kleiner gedacht: Falsches Handeln, das man bedauert, eine Schuld, der man hinterherrennt – das kennt jeder. Das ist Pia Böhme wichtig: „Auch Erinnerung ist es etwas Subjektives, man muss eine objektive Sicht finden. Und dann ins Handeln kommen.“ Nur darüber nachdenken und sprechen, reiche nicht.
Die Bühne als Gehirn
Das Thema „Erinnerung“ zeigt sich auch im Bühnenbild von Rabea Stadthaus. Michael Berg, der Vorleser, wird sich, an einem Schreibtisch sitzend, erinnern. Das Bühnenbild ist eine Gehirnkonstruktion, in der die anderen Akteure für Berg, für die Zuschauer, erscheinen.
Und damit wird die ungleiche Liebesbeziehung von Michael Berg und Hanna Schmitz lebendig. Er wird zu ihrem Vorleser. Sie wird wichtig für den Heranwachsenden. Irgendwann verschwindet sie. Jahre später entdeckt er, inzwischen Jurastudent, sie als eine der Angeklagten in einem Kriegsverbrecherprozess gegen ehemalige Wärterinnen eines Außenlagers von Auschwitz. Er könnte sie retten – und tut es nicht.
Fünf Schauspieler werden auf der Bühne stehen. Guido Thurk als Vorleser, Tobias Schwieger als Michael Berg, Thyra Uhde als Hanna Schmitz und außerdem Mike Kühne sowie Simone Schuster in mehreren Rollen. Simone Schuster feiert auch ein Debüt. Die Schauspielerin sammelt als Dramaturgieassistentin erste Erfahrungen und verfolgt auch das Interview aufmerksam. Für Pia Böhme findet sie viele lobende Worte. „Sie ist sehr klar, weiß, was sie tut“, sagt sie unter anderem. Pia Böhme lacht. „Schreiben sie das auf jeden Fall auf“, sagt sie. So soll es sein.
Pia Böhme spricht im Video über „der Vorleser“ und ihre Ideen, zu sehen auf rn.de/castrop
- „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink, Bühnenfassung von Mirjam Neidhart, hat am Samstag, 25. März, 20 Uhr, Premiere im WLT-Studio in Castrop-Rauxel, Europaplatz 10.
- Die Vorstellung dauert 90 Minuten, eine Pause.
- Danach geht die Produktion auf Reisen. In Castrop-Rauxel ist „Der Vorleser“ wieder am 9. September in der Stadthalle zu sehen.
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