Chefarzt ein Jahr nach Teil-Legalisierung von Cannabis Zahl der Psychosen nicht gewachsen, aber...

Chefarzt zu Cannabis: Zahl der Psychosen nicht gewachsen, aber...
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Der schweren Cannabis-Abhängigkeit begegne er mit Entzug, zum Teil mit Medikamenten behandelt. Bei leichteren Abhängigkeiten verordnet er Sport und eine Stabilisierung des Lebensrahmens. Prof. Dr. Udo Bonnet vom Evangelischen Krankenhaus in Castrop-Rauxel hat täglich mit Menschen zu tun, die unter einer Sucht leiden. Darunter Alkohol, Cannabis, Spielsucht oder Abhängigkeiten zu illegalen Drogen. Marihuana ist seit nun einem Jahr legal zu konsumieren und zum Teil gesetzlich anzubauen. War das eine gute politische Entscheidung? Konsumenten sagen ja. Der Mediziner hat eine andere Perspektive und ordnet ein.

Klar ist: Die Bundespolitik hinterfragt jetzt die von der Ampel verabschiedete Teil-Legalisierung. Die schwarz-rote Koalition hat das Thema im Entwurf des Koalitionsvertrags stehen. Wenn man glauben darf, was im Wahlkampf gesagt wurde, sind die Unionsparteien eher für die Rücknahme, während die Sozialdemokraten eher bei der Freigabe bleiben wollen. Im Herbst soll es laut Vertragsentwurf eine Evaluierung geben.

Man könne sich in Deutschland auf die Erfahrungen aus anderen Ländern stützen: USA seit 2017 und Kanada seit 2019 haben Cannabis in manchen Teilen legalisiert. „In den ersten fünf Jahren wurde dadurch der Schwarzmarkt nicht beeinflusst, aber es gab deutlich mehr Auto- und Skiunfälle“, bilanziert Udo Bonnet mit Blick auf den Bundesstaat Colorado, der da Vorläufer gewesen sei. Die Cannabis-Industrie habe sich dann auch entwickelt: hin zu „Eatables“, also Süßigkeiten oder Keksen, die versehentlich teilweise an Kinder geraten seien. „Die wurden dadurch vergiftet. Für Kinder sind sie extrem schädlich“, so der Top-Mediziner.

Die Vereinten Nationen hätten einen Report veröffentlicht, der vor der Legalisierung gewarnt habe: „Mehr Verfügbarkeit in der Bevölkerung führt zu mehr Verfügbarkeit bei Jugendlichen, also Menschen, wo sich das Gehirn noch entwickelt“, führt Bonnet an. „Wenn Cannabis richtig schädlich ist, dann bei sich entwickelnden Gehirnen, also Menschen, die noch versuchen, in der Sozialwelt zurechtzukommen.“ Der Heranwachsende brauche den Frontalbereich des Gehirns vor allem zwischen 9 und 16 Jahren, um gesellschaftsfähig zu werden. „Wenn ich in dieser Zeit ständig eine Substanz dazwischenhaue, habe ich Probleme mit meiner Impuls- und Emotionsregulation, mit der Selbstorganisation des Lebens, der Konzentration. Ich bin motivationslos. Ich komme mit den Anforderungen des Lebens an mich nicht zurecht.“

Probleme mit der Emotionsregulation

Die Ausrichtung des sozialen Gehirns, auch Frustration und Krisen ertragen zu können, werde gebremst, je nach Dauer und Länge des Konsums. Bonnet meint aus seinem Studien- und Praxis-Wissen: „Wenn ich zwischen 12 und 30 Jahren regelmäßig Cannabis konsumiere, habe ich mit 30 Jahren die Emotionsregulation eines Zwölfjährigen. Das kann auch bei einem Übermaß an Videospielen oder Alkoholgenuss passieren, aber Cannabis kommt nun eben noch hinzu.“

Die Politik habe auch die Schwarzmärkte angreifen wollen mit der Teil-Legalisierung: Die Theorie ist, dass Menschen tendenziell seltener bei Dealern einkaufen, wenn man sich das Gras oder die Blüten legal besorgen kann. „In den USA und Kanada haben diese Märkte aber kaum gelitten, auch wenn wir nur auf einem Zeitstrahl von sechs Jahren sind“, so Bonnet. Seine Vermutung: Der Schwarzmarkt versuche, Alternativen aufzubauen, also etwas Neues zu finden, das „den User wieder inspiriert“, sagt der Psychiater.

Eine weitere Gefahr beim Konsum: Abhängigkeit. „70 Prozent aller Menschen mit Cannabis-Abhängigkeit haben Begleiterkrankungen“, sagt Bonnet: Angststörungen, Depressionen, Psychosen zählt er auf, aber eine chronische Bronchitis oder das Hyperemesis-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine übermäßige Übelkeit und wiederkehrendes Erbrechen sowie Schmerzen im Magen-Darm-Trakt.

Mehr Regulierung, mehr Bürokratie

Welten lägen zwischen der Rauschpotenz und einer Erkrankungspotenz der Rauschmittel aus den 70er- und 80er-Jahren und denen heute. Durch geringer Wirkstoff-Konzentrationen habe es bis in die 90er-Jahre kaum psychische Erkrankungen gegeben. Heute seien Hochzüchtungen mit höheren Gehalten des Wirkstoffs THC im Markt, angereichert zum Teil durch Konzentrate. Vergleichsweise dramatisch seien synthetische Cannabinoide wie „Spice“: „Sie sind weniger kalkulierbar, weil sie innere Unruhen auslösen, Psychosen oder starke Übelkeits-Symptome“, sagt Bonnet.

Drogen vom Schwarzmarkt enthielten zum Teil Blei, Pflanzenschutzmittel oder andere Bestandteile. In den Clubs sei der Anbau dagegen stark reguliert. Darum seien sie oder auch der private Anbau die bessere Alternative. Aber: Das Cannabis-Gesetz sei bürokratielastig. „Dabei will man doch Bürokratie abbauen.“ Und: „Welcher Polizist kontrolliert in einer WG, ob die Bewohner mehr als drei Pflanzen pro Person anbauen?“, sagt Bonnet.

Für Deutschland könne man nach einem Jahr noch nicht sagen, dass mehr Menschen mit Psychosen behandelt würden. „Aber man muss damit rechnen“, sagt Udo Bonnet.

Immerhin eines sei Cannabis nicht: ein Aggressionstreiber. Im Gegenteil. „Fast jede Schlägerei am Wochenende hat ihre Ursachen in Kokain- und Alkoholkonsum. Cannabis ist da höchstens begleitend im Spiel“, erklärt der Chefarzt. Sein Fazit: „Ich glaube, es ist ein Experiment mit der Bevölkerung, das nicht besonders tragisch enden wird.“

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