„Mach mich hoch.“ Drei Worte vom 30. April 2011 haben sich ins kollektive Gedächtnis aller BVB-Fans eingebrannt. Gesprochen hat sie Nobert Dickel, Stadionsprecher bei Borussia Dortmund, im Spiel gegen den 1. FC Nürnberg. Es war das Meisterspiel einer von sich selbst berauschten Borussia.
BVB ist auf Kölner Hilfe angewiesen
Die Ausgangslage vor dem 32. Spieltag: Dortmund wäre bei einem Sieg gegen die Franken und bei einem Ausrutscher des ärgsten Verfolgers Bayer Leverkusen, der parallel beim 1. FC Köln spielte, zum siebten Mal in der Historie Deutscher Meister.
Die Borussia erledigte im Signal Iduna Park ihre Hausaufgaben, führte in einem zum Vergleich mit der wilden Saison verhaltenem Spiel dank der Tore der beiden Angreifer Lucas Barrios und Robert Lewandowski mit 2:0 gegen den FCN. Die Borussia hatte also ihre Hausaufgaben erledigt, das Hoffen auf gute Nachrichten aus der Domstadt begann. Um 16.54 Uhr bildeten sich im gesamten Stadion kleine Jubelinseln, die frohe Kunde der 1:0-Führung des 1. FC Kölns gegen den Verfolger aus Leverkusen verbreitete sich über zahlreiche Mini-Radios, die angesichts des chronisch überlasteten Netzes rund um das Dortmunder Stadion als zuverlässigste Informationsquelle dienten.

Auch bei Dickel landete die Botschaft des Treffes von FC-Angreifer Milivoje Novakovic, wie er im Gespräch mit den Ruhr Nachrichten berichtet: „Ich habe einen Knopf im Ohr, darüber kann mich die Regie im Stadion ansprechen. Die hatte an diesem Tag den Auftrag mir mitzuteilen, wenn ein Tor in Köln fällt. Das haben sie getan.“
Dickel wiederum hielt nicht lange an sich, bat die Regie umgehend, ihn über die Stadionboxen für die 80.720 hörbar zu machen – was nicht passierte. „Ich brüllte das Ergebnis, merkte aber, dass ich noch nicht im Stadion zu hören war. Ich versuchte es wieder und wieder, doch es kam nichts“, erinnert sich der frühere Dortmunder Angreifer, der mittlerweile schon nahezu brüllend in Richtung Regie forderte: „Mach mich hoch!“ Doch da war er schon „oben“ und brüllte weiter: „1:0 für Köln!“
Der Signal Iduna Park bebte angesichts der jetzt greifbaren ersten Meisterschaft seit 2002, mit ohrenbetäubendem Furor hallte „Deutscher Meister wird nur der BVB!“ durch das Stadion. Als erneut Novakovic das 2:0 für Köln gegen Leverkusen nachlegte, war den Borussen der Titel nicht mehr zu nehmen.
Ein besonderer Titel
Es war eine in vielerlei Hinsicht herausragende Meisterschaft. Vor allem die Unerwartbarkeit macht sie auch 13 Jahre später zu etwas Besonderen. Zwar hatte sich der BVB seit dem Amtsantritt des damaligen Trainers Jürgen Klopp 2008 zwar Schritt für Schritt aus der sportlichen Depression infolge der Beinahe-Insolvenz drei Jahre zuvor gekämpft, doch republikweit dürfte im Sommer 2010 wohl niemand auch nur einen Pfifferling auf einen Deutschen Meister aus Dortmund gesetzt haben.
Denn die Mannschaft war blutjung, gerade einmal 24 Jahre alt im Schnitt. Doch sie war mit Charakterköpfen bestück. Kevin Großkreutz etwa zerriss sich für seine Farben, lebte den Traum des Fans von der Südtribüne, der es auf den Rasen schaffte. Zudem impfte der Urborusse seine Kollegen zügig mit dem schwarzgelben Gen, ließ sie auch in der Blase Profifußball spüren, welche Bedeutung Borussia Dortmund für die BVB-Fans im krisengebeutelten Ruhrgebiet hat.

Kurz nach dem Gewinn der Meisterschale bekannte der gebürtige Dortmunder: „Das ist für mich wie im Traum. Vor zwei Jahren habe ich noch jedes Auswärtsspiel als Fan mitgemacht und war bei jedem Heimspiel mit dabei. Ich selbst habe damals in der Zweiten Liga gespielt.“
Dazu bewies Dortmunds Sportdirektor Michael Zorc mit eingeschränkten Mitteln ein goldenes Händchen bei der Kaderzusammenstellung, lotste mit Lucas Barrios (4,2 Millionen Ablösesumme), Shinji Kagawa (350.000 Euro) oder Sven Bender (1,5 Millionen Euro) eine Vielzahl an Juwelen an die Strobelallee. Dazu entwuchs Marcel Schmelzer der U23, ließ seine Herz und seine Lunge als Linksverteidiger auf dem Platz und verdrängte so die technisch versiertere, aber lauffaule BVB-Legende Dede. Mit Mario Götze verzückte die größte Hoffnung des deutschen Fußballs die Bundesliga, sorgte für das Zauberhafte, die Leichtigkeit im Dortmunder Spiel.

Zorc erinnert sich: „Wir haben konsequent auf junge Leute gesetzt. Und Jürgen hat unserem Klub neues Leben eingehaucht.“ Dickel gerät vor allem beim „Kinderriegel“ getauften Innenverteidigerverbund, bestehend aus Mats Hummels und Neven Subotic, ins Schwärmen: „Wer konnte denn ahnen, dass die beiden dermaßen einschlagen? Es war einfach eine geile Saison.“ Für Lukasz Piszczek, 2011 ein Außenverteidiger vom höchsten Rang, war der Titelgewinn „aus emotionaler Sicht ganz bestimmt ein Höhepunkt meiner Karriere.“
Die hungrige Mannschaft fegte durch die Liga. Ihr Markenzeichen war das Gegenpressing, das sofortige Attackieren nach einem Ballverlust. Der Erfinder, Dortmunds damaliger Trainer Jürgen Klopp, erklärt es so: „Gegenpressing sorgt dafür, dass man den Ball näher am gegnerischen Tor erobert. Dann ist man nur einen Pass von einer richtig guten Möglichkeit entfernt. Kein Spielmacher auf der Welt kann so gut wie eine Gegenpressing-Situation sein. Deshalb ist das so wichtig.“
„Mach mich hoch“: Heute unmöglich
Das Spiel gegen Nürnberg war der Gipfel einer Saison im Rausch. „Mach mich hoch“ wird allerdings nicht mehr im Dortmunder Stadion zu hören sein, Dickel kann sich mittlerweile per Knopfdruck selbst auf den Stadionton legen. In Vergessenheit werden die drei Wörter nicht geraten: Sie kündigen in der BVB-App eine neue Nachricht an – und holen so ein kleines bisschen Erinnerung an 2011 in die Gegenwart.
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