Als gebürtiger Franke und heutiger Weltbürger: Welche Bedeutung hat das Revierderby von außen betrachtet?
Ich will es nicht übertreiben und zuspitzen, aber beim Revierderby brennt immer der Baum! Da herrscht eine große Rivalität, beide Klubs haben deutsche Fußballgeschichte geschrieben. Egal, wo ich gelebt habe: Jeder Fußballfan weiß um die Bedeutung dieses Spiels. Und gerade nach Corona sind die Leute wieder heiß geworden auf Fußball. Die Spannung in der Bundesliga oben und unten in der Tabelle trägt ihren Teil dazu bei.
Am Samstag steht sogar ein echtes Spitzenspiel an: Es treffen die beiden Mannschaften aufeinander, die in der Rückrunde noch ungeschlagen sind.
Die einen sind Zweiter von oben, die anderen sind Zweiter von unten (lacht). Beide Mannschaften sind gut in Form. Ich sehe den BVB als klaren Favoriten, obwohl ich S04 einiges zutraue. Aber die Tabelle lügt ja nicht.
Der BVB ist punktgleich mit den Bayern. Wie fällt Ihre Analyse aus?
Mein Eindruck ist, dass in Dortmund Trainer und Team zusammengefunden haben. Erst kommt die Arbeit, dann die Fußballkunst, das Ergebnis steht inzwischen vor dem Spektakel. Die Reihenfolge stimmt, anders als noch in Teilen der Hinrunde. Edin Terzic hat im Winter offensichtlich die richtigen Worte gefunden. Wenn diese Mannschaft voll dagegenhält, kommt auch ihre große Qualität zum Tragen, die in der Truppe steckt.
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Was hat Terzic richtig gemacht?
Er verfügt über zwei große Trümpfe: Zum einen den Sieg im DFB-Pokal vor knapp zwei Jahren, der ihm große Anerkennung und Akzeptanz gebracht hat. Und er hat den Bonus, dass er aus der Kurve kommt, früher selbst auf der Südtribüne gestanden hat. Er kennt das Vereinsleben aus dem Effeff. Diese Nähe zum Klub bringt ihm maximale Wertschätzung. Und er hat es geschafft, dass einige Spieler endlich ihre besten Leistungen herauskitzeln.
Wen meinen Sie, und wie hat er das geschafft?
Terzic hat die richtigen Positionen für seine Spieler gefunden. Bei Julian Brandt oder Emre Can hat man ja schon über Verkauf oder Vertragsauflösung nachgedacht. Jetzt sieht man, was beide leisten können. Can zum Beispiel bringt überragende Leistungen, er ist ein echter Leader geworden. Früher ist er herumgeschoben worden, hat mal auf der Sechs, mal in der Innenverteidigung oder hinten rechts gespielt. Was da im Kopf eines Spielers passiert, kann sich jeder vorstellen.
Und Brandt?
Er galt immer als ein großes Talent, und fünf Jahre später galt das immer noch. Mit 26 Jahren noch so bezeichnet zu werden, ist ja eigentlich eine Beleidigung. Er hat sicher viele Gespräche mit dem Trainer geführt und nun gezeigt, dass er auch anders kann. Can und Brandt sind zwei zentrale Spieler geworden. Hinzu kommt die Mentalität, die man eingekauft hat.

Wen würden Sie da nennen?
Einen Nico Schlotterbeck, einen Salih Özcan oder neulich Julian Ryerson. Im Jahr davor einen Gregor Kobel. Diese Spieler passen gut zum Verein und in diese Region. Malochen, malochen, malochen – und dann kann Brandt seine Slalomläufe machen, Marco Reus zaubern, Karim Adeyemi sein Tempo ausspielen. Das kommt alles nachrangig – erst wird gemeinsam gearbeitet. Der Mannschaftsgedanke steht im Vordergrund. Das ist erfolgreich, und das kommt auch bei den Fans gut an - wie bei Jude Bellingham, der 90 Minuten Gas gibt, mit vollem Körpereinsatz, und der sich für nichts zu schade ist.
Brandt, Adeyemi und einige weitere werden im Derby fehlen. Jetzt schlägt das Verletzungspech beim BVB wieder zu ...
… Einspruch! Diese Klagen kommen doch von allen Vereinen immer wieder. Bayern München fehlt auch ein Hernandez oder ein Neuer, sie haben dann nachgelegt im Winter. Die Schalker hatten auch einige Probleme. Diese Ausfälle gehören mittlerweile leider zum Fußball dazu. Diese Phase muss man als Klub, als Trainer und als Mannschaft durchstehen. Jetzt können sich diejenigen präsentieren, die vorher hinten dran waren.
Welche Rolle spielt beim BVB das Aus in der Champions League am Dienstag für das Derby am Samstag?
Ich denke, dass das Ausscheiden keine große Rolle spielt. Der BVB hat sich gewehrt, aber auch nicht seine beste Leistung gezeigt. Sie sind verdient ausgeschieden, auch wenn es wehtut, weil die Chance auf das Viertelfinale da war. Die Diskussionen um den Strafstoß kann ich verstehen, aus Dortmunder Sicht würde ich mich auch aufregen und sauer sein. Aber die Entscheidungen waren aus neutraler Perspektive nachvollziehbar. Die Hand von Marius Wolf war abgespreizt, und Spieler sind vor der Ausführung in den Strafraum gelaufen. Das ist alles regelkonform entschieden worden. Grundsätzlich muss ich allerdings sagen, dass ich diese permanenten Diskussionen nicht mag. Ohne den VAR war der Fußball in der Urteilsfindung der Unparteiischen ehrlicher, die Entscheidungen natürlicher, die Emotionen spontaner. Diese Entwicklung nimmt dem Fußball viel Atmosphäre.
Atmosphäre ist das Stichwort: Jetzt kommt es darauf an, wie der BVB die Situation annimmt.
Dieses Chelsea-Spiel müssen die Spieler aus dem Kopf bekommen. Vielleicht erweist sich das Ausscheiden mittelfristig als ein Vorteil im Kampf um die Meisterschaft. Die Bayern sind noch in der Champions League vertreten und müssen eine größere Belastung verkraften. Die sind das allerdings auch gewohnt, sie kennen den Rhythmus.
Wie stark schätzen Sie den BVB denn wirklich ein? Sind die Dortmunder ein Titelkandidat?
Bis zur Winterpause waren sie sicher kein Titelkandidat. In diesem Jahr haben sie gezeigt, dass sie fokussierter sind, allmählich diese Siegermentalität entwickeln und das nötige Spielglück haben. Die Leistung stimmt. Wenn das Verletzungspech nicht über Gebühr zuschlägt, haben sie eine gute Chance, Deutscher Meister zu werden. Sie haben seit Januar neun Punkte auf die Bayern aufgeholt, das ist eine Ansage! Wie ernst man die Ambitionen nehmen muss, wird sich in einem Spiel wie am Samstag zeigen. Das Derby ist ein echter Prüfstein auf allen Ebenen, fußballerisch und mental, ob die Leistungsbereitschaft stimmt. Schalke wird kratzen, beißen, kämpfen.
Kommt das Derby also eher Schalke entgegen?
In so einem emotional aufgeladenen Spiel ist der spielerisch schwächere Gegner nicht zwingend der Außenseiter. Die nötige Einstellung wird Schalke auf jeden Fall mitbringen. Wenn der BVB gedanklich bei der Sache ist und seine fußballerischen Vorteile ausnutzen kann, sollte der Sieger feststehen.
Schalkes Abwehrspieler Moritz Jenz hat gesagt, Taktik spiele im Derby eine untergeordnete Rolle, weil es überall auf dem Platz sehr physisch zur Sache gehe. Hat er Recht, funktionieren Derbys anders?
Ich habe die Schalker jetzt häufiger gesehen, da geht es immer sehr robust, sehr kompakt zur Sache. Für sie ist das nicht neu. Sie spielen teilweise Eins-gegen-Eins auf dem ganzen Feld, agieren mutig und aggressiv trotz der Tabellensituation. Ihr Trainer Thomas Reis hat eine Mannschaft geformt, die den Körperkontakt sucht. Schalke muss genau so spielen! Das ist unangenehm für die Gegner. Die Frage wird also sein, ob der BVB sich darauf einlassen kann und will. Die Dortmunder haben gezeigt, dass sie diese Facetten auch beherrschen. Aber sie müssen es nicht in jedem Spiel komplett abrufen, weil sie auch andere Qualitäten haben.
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Lassen Sie uns kurz über Thomas Reis sprechen. Der hat mit dem VfL Bochum in der vergangenen Saison den kaum für möglich gehaltenen Klassenerhalt geschafft, mit Schalke könnte es ihm wieder gelingen, wo es fast undenkbar schien. Was macht er besonders gut?
Thomas Reis hat die Mannschaft geeint und auch gute Personalentscheidungen getroffen, als er zum Beispiel Ralf Fährmann ins Tor gestellt hat. Er hat ein passendes System gefunden, und die forsche Herangehensweise, teilweise mit sehr frühem Anlaufen, passt zu den Spielern. Diese Geschlossenheit sieht man auch, wenn nach Toren die gesamte Bank aufspringt und losrennt. Da ist etwas entstanden, wo man sagen kann: Die halten alle zusammen, alle fiebern mit. Diese Söldner-Problematik, die auch auf Schalke in den vergangenen Jahren immer mal wieder ein Thema war, gibt es aktuell nicht.
Die Ansprüche sind geringer geworden.
Wirtschaftlich sind auf Schalke keine großen Sprünge möglich. Was funktioniert: Der Trainer lebt die Mentalität vor, und die Mannschaft zieht mit. Von den Fans, die ihre Spieler bedingungslos unterstützen, ganz zu schweigen. Der Klub hält auch in schlechten Zeiten zusammen, trotz der Rückschläge in der Hinrunde. Die einzige Bedingung ist, dass die Mannschaft malocht. Und das tut sie. Das tut aktuell auch Dortmund. In der Bundesliga gewinnst du kein Spiel mehr mit 80 Prozent. Und wenn sie zusätzlich ihre fußballerische Klasse ausspielen, ist das auch noch sehr schön anzuschauen.
Hätten Sie in der Winterpause auf Schalkes Nicht-Abstieg getippt?
Ich habe sie nicht so chancenlos gesehen wie andere Experten. Es geht doch alles schnell im Fußball. Du holst zwei Siege und machst plötzlich sechs Punkte gut auf die Konkurrenten. Schalke ist auf dem richtigen Weg, auch wenn sie zwischendurch mal verlieren, wie es am Samstag passieren könnte. Es gibt in ihrer Situation keine Bonusspiele mehr, sie brauchen jeden Punkt. Egal, wie der Gegner heißt. Auch wenn sie wie im Fall von Dortmund den Gegner in der Tabelle nur mit dem Fernglas sehen.
In Dortmund gibt es, wie in fast jedem Frühjahr, Personaldiskussionen. Könnten die Debatten um Jude Bellingham, Marco Reus und Mats Hummels die Konzentration stören?
Bei Bellingham würde ich sagen: nein! Diese Situation hat der BVB bei Sancho, Haaland etc. mehrfach mitgemacht. Sie werden auf alle Fälle vorbereitet sein. Es liegt auf der Hand, dass bei dem Aufstieg, den Bellingham in den letzten zwei Jahren hingelegt hat, alle Topklubs Interesse zeigen. Aufgrund der wirtschaftlichen Konstellation gibt es da potentere Klubs. Wenn der Spieler gehen will, wird man ihn nicht halten können. Dann muss für den BVB wenigstens die Kohle stimmen.
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Und bei den beiden Routiniers?
Mats Hummels wird die Lage für sich bewerten. Nico Schlotterbeck und Niklas Süle machen ihre Sache gut. Er wird die Faust in der Tasche ballen, wenn er nicht spielt. Genauso bei Marco Reus: Als er zwischenzeitlich nicht einsatzfähig war, haben andere auf sich aufmerksam gemacht und sind vielleicht vorübergehend an ihm vorbeigezogen. Hummels und Reus sind nicht unantastbar, auch wenn sie Kapitäne sind. Ein Thomas Müller beim FC Bayern hat das ähnlich erlebt. Die einzig richtige Reaktion ist es, Gas zu geben, Leistung zu zeigen. Das erwarte ich grundsätzlich von allen Spielern, von alten wie von jungen Leuten, die sich in frühen Jahren schon für unersetzlich halten. Meiner Einschätzung nach nehmen Reus und Hummels ihre Situation an, wie sich das gehört. Beide haben in dieser Saison schon starke Spiele abgeliefert.
Sie haben mit fast 40 Jahren noch gespielt. Was würden Sie Mats Hummels oder Marco Reus raten? Und was dem BVB?
Ich war mit fast 40 noch unantastbar und Stammspieler! Wenn man merkt, dass es sportlich schwerer wird, sind die guten Gespräche und das Vertrauensverhältnis zum Trainer entscheidend. Hummels und Reus sind aufgrund ihrer Erfahrung, ihrer Erfolge und der langen Karriere wichtige Ansprechpartner für Terzic. Und die anderen Vertragsgespräche muss man offen, ehrlich und auf Augenhöhe führen, wie es sich bei dermaßen verdienten Spielern gehört.
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