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Kiew-Trainer Lucescu vor Benefizspiel gegen BVB: „Die Ukraine wird wieder aufleben!“
Borussia Dortmund
Mircea Lucescu hat als Fußballtrainer schon viel erlebt. Der Krieg ist aber auch für den 76-Jährigen neu. Im Interview vor dem Benefizspiel gegen den BVB spricht der Kiew-Coach über „grausame Nächte“.
Bei wenigen Fußballlehrern trifft die Bezeichnung „Trainerfuchs“ so zu wie bei Mircea Lucescu. Der 76-jährige Rumäne war in seiner langen Trainer-Laufbahn in fünf Ländern als Vereins-bzw. Nationaltrainer aktiv und gewann insgesamt 36 Trophäen. Nur Sir Alex Ferguson kann mehr Erfolge vorweisen. Seine Glanzzeit erlebte der polyglotte Kunstliebhaber zweifellos beim ukrainischen Top-Klub Shakhtar Donezk, wo er zwischen 2004 bis 2016 auf der Trainerbank saß und mit dem er 2009 den UEFA-Pokal holte. Seit Juli 2020 betreut Lucescu, dessen Sohn Razvan PAOK Saloniki trainiert, den Traditionsklub Dynamo Kiew. Am Dienstagabend gastiert Mircea Lucescu mit seinem Team beim BVB.
Der Krieg in der Ukraine wütet nun seit mehr als zwei Monaten. Wo waren Sie am 24. Februar, als Russland den Angriff begann?
Wir waren gemeinsam mit der ganzen Mannschaft in Kiew. Ich war bei mir zu Hause und anfangs dachte ich, dass ein Gewitter über Kiew fegte. Anschließend sind wir mit der gesamten Mannschaft ins Klubareal gezogen. Dort haben wir zwei grausame Nächte verbracht: Es herrschte überall Panik, man hörte Bombeneinschläge und es heulten permanent die Sirenen. Es war wie in einem Horrorfilm, leider jedoch ganz real.
Haben Sie persönlich erwartet, dass das „russische Brudervolk“ der Ukraine den Krieg erklären würde?
Niemand hätte so etwas erwartet. Es wurde natürlich spekuliert, nachdem russische Truppen lange an der Grenzregion Manöver abgehalten haben. Keiner konnte es sich jedoch vorstellen, dass Putin den ultimativen Schritt gehen würde. Wir waren gerade aus dem Trainingslager in der Türkei zurückgekehrt und bereiteten uns auf den Liga-Rückrundenstart vor.
In einem Interview mit dem „Guardian“ sagten Sie, dass Sie von Bukarest aus der Ukraine weitaus mehr helfen könnten, als wenn Sie in Kiew geblieben wären. Welche Art von Hilfe leisten Sie?
Anfangs erwog ich, in Kiew bei meinem Team zu bleiben. Rasch realisierte ich aber, dass ich dort nur untätig ausharren müsste. Außerdem bestand die rumänische Botschaft darauf, dass ich das Land verlassen soll. So beschloss ich, mit ein paar Mitarbeitern mit dem Auto nach Bukarest aufzubrechen. Unterwegs sahen wir schreckliche Bilder: Straßen und ganze Wohnblocks waren von Bomben zerstört, Gruppen von Frauen und Kindern, die zum Teil zu Fuß auf der Flucht waren. Ich habe mich nach meiner Ankunft in Bukarest primär dafür eingesetzt, dass die Familienangehörigen meiner Spieler nach Rumänien gelangen. Mittlerweile ist das gesamte Team von Dynamo Kiew samt Betreuerstab in Bukarest, wo wir beim Rumänischen Olympia-Stützpunkt untergebracht sind. Wir haben in der Zwischenzeit Benefizspiele in Cluj, in Istanbul, gegen Galatasaray und in Warschau, gegen Legia absolviert, deren Einnahmen in den Wiederaufbau der Ukraine fließen werden. Ferner sind wir in Kontakt mit PSG und Inter Mailand, um auch gegen diese Klubs Spiele zu bestreiten.
Am Dienstag gastieren Sie mit Dynamo Kiew im Signal Iduna Park. Sie waren bereits mit Shakhtar Donezk in der Dortmunder Arena zu Gast. Wir frisch sind die Erinnerungen daran?
Ja, das war im Jahr 2013 im Achtelfinale der Champions League. Es war eine phantastische Atmosphäre, wenngleich wir das Spiel mit 0:3 verloren haben und ausgeschieden sind. In der Folgesaison wechselte dann mein Spieler Henrikh Mkhitaryan zu der Dortmunder Borussia. Ich hoffe, dass die großartigen BVB-Anhänger auch diesmal das schöne Stadion füllen, um für den guten Zweck der Begegnung ihren Beitrag zu leisten.
In Ihrer Karriere haben Sie 36 Titel gewonnen. Haben Sie jemals unter solch erschwerten Bedingungen eine Mannschaft betreut?
Solche Grenzsituationen sind auch für mich, der sehr lange in diesem Geschäft ist, absolutes Neuland und eine Erfahrung, auf die ich liebend gern verzichtet hätte. Eine ähnliche Situation, auch wenn nicht in diesem Ausmaß, erlebte ich 2014, als ich Trainer bei Shakhtar Donezk war und der Konflikt im Donbass ausbrach. Damals blieben wir mit dem gesamten Mannschaftstross mehr als sieben Wochen im Ausland. Anschließend konnten wir nicht mehr zurück nach Donezk und seitdem ist der Klub in Kiew beheimatet. Trotz dieser widrigen Umstände wurde damals immerhin Fußball gespielt. Daran kann man momentan nicht denken. Ich glaube aber, dass der ukrainische Fußball und die Ukraine wieder aufleben werden!
Apropos Donezk. Stimmt es eigentlich, dass Sie die Ausreise der ausländischen Spieler von Shakhtar mitorganisiert haben?
Selbstverständlich. Wie sollte ich in solch einer heiklen Situation einen Unterschied zwischen Spielern von Dynamo Kiew und Shakhtar machen? Im Moment gibt es keinen Platz für Rivalität. Ich habe ihnen und ihren Familien geholfen, im Hotel unterzukommen und langfristig Wohnungen in Bukarest zu finden. Unlängst ist der Nationalspieler Artem Dovbyk von SK Dnipro in Bukarest angekommen. Auch er bekommt jedmögliche Hilfe.
In einem Interview kurz nach Kriegsbeginn kritisierten Sie die Sanktionen gegen die gesamte russische Sportwelt und beteuerten, dass der Sport nicht in politische Entwicklungen hineingezogen werden solle. Wäre es vorstellbar, dass z.B. die russische Fußball-Nationalmannschaft ein WM-Playoffspiel bestreitet, während die russische Armee einen Angriffskrieg führt?
Ich habe diese Frage erwartet. Meine Äußerungen wurden damals missverstanden und ins falsche Licht gerückt. Ich habe lediglich gesagt, dass Russlands Athleten nicht den Preis dafür zahlen sollten, für das, was in der Ukraine passiert. Gewiss muss ein Sportler oder ein Verband, welcher diesen Krieg befürwortet, sanktioniert werden. Er würde durch solch eine Haltung den Geist des Fair-Play und den Sport im Allgemeinen infrage stellen. Andererseits glaube ich, dass der Sport durchaus in der Lage ist, als Botschafter und Brückenbauer zu fungieren.
Die FIFA hat die WM-Playoffpartie zwischen Schottland und der Ukraine am 1. Juni in Glasgow terminiert. Wie fair erscheint es Ihnen, dass die ukrainische Nationalmannschaft unter solchen Bedingungen antreten soll?
Das ist eine sehr knifflige Situation. Der internationale Terminkalender und die bevorstehende WM lassen nicht viel Spielraum. Der ukrainische Verband hat jetzt ein Trainingslager in Slowenien für das Nationalteam organisiert. Dort trifft sich am 3. Mai die Mannschaft, um sich auf das Spiel in Schottland vorzubereiten. Unter den momentanen Gegebenheiten scheint es mir eine relativ akzeptable Lösung zu sein. Ich werde meinerseits alles in meiner Kraft Stehende dafür tun, dass die Spieler von Dynamo Kiew bestmöglich vorbereitet zur Nationalmannschaft reisen werden.
Sie sitzen seit 1979 auf der Trainerbank. Wie lange möchten Sie eigentlich noch in der Coaching-Zone stehen?
Fußball ist meine große Leidenschaft und so lange ich sie meinen Spielern weitergeben kann, möchte ich diesem Sport treu bleiben. Ich hatte 2009 bei meinem Engagement in Donezk einen leichten Herzinfarkt, von dem ich mich aber schnell erholt habe. Ein anderes Faible von mir ist die Kunst, die, gepaart mit Literaturlektüre, mir einen vitalisierenden Ausgleich zum Fußballalltag schenkt.