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Im Herzen des BVB-Stadions ist Antisemitismus ein viel diskutiertes Thema
Borussia Dortmund
Im Stadion des BVB ist Politik nicht nur ein Thema, wenn Fans auf der Südtribüne Spruchbanner hochhalten. Im Herzen der Südtribüne wird ständig über Homophobie und Antisemitismus gesprochen.
Die Tür unter der Südtribüne ist gut versteckt. Sie verschmilzt mit dem Graffiti, das die Wand bedeckt. Johannes Böing findet sie fast selbst nicht, dabei geht der Diplom-Pädagoge hier ein und aus. Ein gelbes Schild hilft. BVB-Lernzentrum steht dort. Hinter der Tür wird im Herzen des Stadions politische Jugendbildungsarbeit geleistet. Den Satz „Politik gehört nicht ins Stadion“ findet der Leiter des Lernzentrums, Johannes Böing, Quatsch, denn „erstens ist sie schon längst da und zweitens gehört sie genau dorthin“.
Das BVB-Lernzentrum nutzt die Strahlkraft des Vereins
Es ist der Ansatz des BVB-Lernzentrum, die Strahlkraft des Vereins und seines Stadions zu nutzen, um Jugendliche für ein soziales Miteinander ohne jegliche Form von Diskriminierung zu sensibilisieren. So steht es auf der Internetseite des Lernzentrums.
„Aber immer auf Augenhöhe, methodisch abwechslungsreich und an ihren Alltag anknüpfend“, ergänzt Johannes Böing. Gesprochen wird über Themen wie Rassismus, Homophobie und Sexismus, aber auch über ökologische Nachhaltigkeit – als Beispiel dient der Fußball.
Leiter der BVB-Lernzentrums erhält „ELNET Award“
Johannes Böing, der dafür kürzlich mit dem „ELNET Award“ für außergewöhnliches Engagement für jüdisches Leben in Deutschland ausgezeichnet wurde, breitet Bilder und Texte auf einem der weißen Tische im Lernzentrum aus, die die Teamerinnen und Teamer eigentlich mit den Jugendlichen besprechen. In einem Text geht es um die Ausfälle einiger BVB-Fans, die 2011 beim Champions-League-Auswärtsspiel bei Olympique Marseille „Zick, Zack, Zigeunerpack“ in Richtung der Heimfans gerufen haben.
Herzlichen Glückwunsch zu dieser Auszeichnung an Johannes Böing vom @BVB-Lernzentrum
— DFL Deutsche Fußball Liga (@DFL_Official) June 8, 2021
Das Lernzentrum ist Teil des von der #DFL Stiftung geförderten Programms „Lernort Stadion“, das Jugendlichen niederschwellig politische Bildung ermöglicht ➡️ https://t.co/MadMAYH9rS https://t.co/R69poz7hO8
„Wir nutzen diese Beispiele aus dem Fußball, um darüber zu diskutieren, warum solche Rufe nicht in Ordnung sind und um die Jugendlichen dafür zu sensibilisieren“, erklärt Böing, während er zwei Fotos auf den Tisch legt. Das eine zeigt ein Banner der rechtsextremen Borussenfront im Dortmunder Stadion, das andere BVB-Fans, die auf der Südtribüne ein Spruchband hochhalten „Ultras rein. Nazis raus“.

Johannes Böing im Signal Iduna Park - hier ist das BVB-Lernzentrum zu Hause.
Haltung des BVB als Verstärkereffekt
Die Haltung des BVB zu vielen Themen habe einen Verstärkereffekt, sagt Böing. „Wenn die Jugendlichen sehen, dass ihr Lieblingsverein sich antirassistisch positioniert, nehmen sie das viel eher wahr und auf, als wenn dies zum Beispiel im Rahmen von Schulunterricht besprochen wird.“ Das imposante Stadion der Schwarzgelben als Lernort steigere die Motivation der Jugendlichen zusätzlich, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, erklärt der 47-Jährige das Konzept.
Der Ansatz stammt aus England. Im Dezember 2003 reisten Mitarbeiter des Jugendamtes und des Fan-Projekts Dortmund nach Leeds. Sie wollten sich einen Eindruck vom dortigen „Study Support Projekt“ machen, bei dem in der Woche leerstehende Räume in den Stadien der Premier League für Bildungsangebote genutzt werden.
Lernzentrum wird von der BVB-Stiftung „leuchte auf“, der DFL-Stiftung und dem Jugendamt der Stadt Dortmund gefördert
Ein Jahr später wurde auf Initiative des Fanprojekts das Lernzentrum gegründet. Gefördert wird es unter anderem von der BVB-Stiftung „leuchte auf“, der DFL-Stiftung und dem Jugendamt der Stadt Dortmund. Im Stadion ist es seitdem mehrmals umgezogen, bis es nun seinen Platz unter der Südtribüne gefunden hat. Für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ist es selbst etwas Besonderes, hier zu arbeiten. „Wir sind alle BVB-Fans, vor jeder Team-Runde sprechen wir erst mal über das vergangene oder das kommende Spiel der Borussen“, sagt Böing.
3000 Jugendliche besuchen jährlich die Workshops des Lernzentrums. Vor allem von Hauptschulen, Berufskollegs und Gesamtschulen aus Dortmund und dem Umkreis kommen die Schülerinnen und Schüler. Normalerweise. Die Pandemie schränkt das Lernzentrum auch in seinem Angebot ein. Arbeit vor Ort verbunden mit Stadiontouren ist momentan nicht möglich, vieles findet deshalb Online statt.
BVB-Lernzentrum bekämpft Homophobie und Antisemitismus
Die größten Vorbehalte stellt der Leiter beim Thema Homosexualität aus. Auch Antisemitismus sei nach wie vor ein Problem. „Stellen wir solche Haltungen fest, geben wir natürlich Kontra, aber nie mit erhobenem Zeigefinger und ohne den Jugendlichen vor dem Kopf zu stoßen – sonst würden wir sie sofort verlieren“, sagt der Diplom-Pädagoge.

Das BVB-Lernzentrum will Jugendliche für ein soziales Miteinander ohne jegliche Form von Diskriminierung sensibilisieren. © Wittland
Adressat des Angebots sind vor allem Jugendliche aus gesellschaftlichen Kontexten, die von klassischen Formaten politischer Bildungsarbeit nicht erreicht werden. Böing spricht in diesem Zusammenhang von „bildungsfernen Mileus“. Für den Familienvater ist diese Arbeit selbst bereichernd, sagt er. „Wir wollen in die Gesellschaft hereinwirken. Vor einen Grünen-Parteitag müssen wir uns nicht stellen und über Homophobie sprechen. Wir machen das nicht, um Applaus zu bekommen, sondern die Jugendlichen zum Nachdenken zu bewegen.“
Das Lernzentrum setzt sich auch kritisch mit Borussia Dortmund auseinander
Dazu gehört auch, dass man sich kritisch mit Borussia Dortmund auseinandersetzt. Böing nennt als Beispiel den Bierträger im Stadion, der vom Verein Marketing-wirksam „Herrenhandtasche“ genannt wird. „Damit reproduziert der BVB unnötig tradierte Geschlechterklischees. Es impliziert, dass Bier trinken eine Sache für Männer ist. Weibliche Fans lässt man so außen vor“, erklärt der Leiter des Lernzentrums.
Auch die Sprache im Fußball sei noch sehr männlich geprägt. „Wenn Marco Reus nach einem Spiel sagt, der Schiedsrichter habe keine Eier gehabt, ist das etwas, über das wir hier in den Workshops sprechen“, sagt Böing. „Denn welche Botschaft steckt denn darin, wenn man das mal weiterdenkt? Man braucht Eier, um mutig aufzutreten und Entscheidungen zu treffen und dies ist dann irgendwie besonders männlich. Blödsinn! Eine Schiedsrichterin hat zwar keine Eier, kann aber natürlich trotzdem mutige Entscheidungen treffen.“ Für die Macht der Sprache wolle man die Jugendlichen sensibilisieren und sie ermutigen, sich selbst politisch einzubringen.
„Überall ist Politisches zu finden“, sagt Böing. Viele Jugendliche, die ins Lernzentrum kommen, würden Politik aber als etwas elitäres wahrnehmen, als etwas, bei dem sie nicht mitwirken können. „Viele fühlen sich abgehängt“, sagt der Leiter des Lernzentrum. „Aktive Fans in Dortmund und Spruchbanner auf der Süd dienen uns als Beispiel: Die Fans äußern ihre Meinung und schaffen es, wie beispielsweise bei Ticketpreisen oder der Super League, spürbar Einfluss auf das Handeln von Vereinen und Verbänden zu nehmen. Wir wollen den Jugendlichen mitgeben: Das könnt ihr auch.“
Als gebürtiger Dortmunder bin ich großer Fan der ehrlich-direkten Ruhrpott-Mentalität. Nach journalistischen Ausflügen nach München und Berlin seit 2021 Redakteur in der Dortmunder Stadtredaktion.
