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BVB-Trainer Lucien Favre zögert: Borussia Dortmund und die Systemfrage
Borussia Dortmund
Lucien Favre würde gerne zur Viererkette zurückkehren, obwohl die BVB-Dreierkette zuletzt für Stabilität gesorgt hat. Die Systemfrage sorgt für Kopfzerbrechen bei Borussia Dortmund.
Die Systemfrage beschäftigt Lucien Favre seit Beginn der Vorbereitung, seit zwei Wochen bereitet sie ihm immer größer werdendes Kopfzerbrechen. 3-4-2-1, so wie ab Herbst 2019 zumeist erfolgreich praktiziert, oder doch wieder zurück zur Viererkette? Favre ist ein Freund dieser taktischen Anordnung, daraus hat Borussia Dortmunds Trainer nie einen Hehl gemacht, nicht nur, weil „alle großen Teams mit Viererkette spielen“, wie er nimmermüde betont.
BVB muss mehrere Wochen auf Zagadou verzichten
In allen Tests der bisherigen Vorbereitung hat der Schweizer wieder mit vier Verteidigern spielen lassen. Ungeachtet der Tatsache, dass sich sein Kader in der Vorsaison defensiv erst deutlich stabilisierte und wohler fühlte auf dem Rasen, als Favre - auf sanften Druck auch aus der Mannschaft, wie man damals vernahm - auf ein System mit Dreierkette umstellte.
Große Personalprobleme gerade im Abwehrbereich erschweren nun das Einstudieren beider Alternativen. In Mateu Morey und Nico Schulz sind zwei Außenverteidiger verletzt und müssen um ihre Einsatzfähigkeit zum Start in die neue Saison bangen. Dan-Axel Zagadou wird diesen und weitere Spiele wegen seiner Knie-Blessur ganz sicher verpassen. Das Fehlen des Innenverteidigers dürfte in der Systemfrage eine entscheidende Rolle spielen.
Die BVB-Punktausbeute spricht eine klare Sprache
Ohne den französischen Hünen fehlt Dortmund im Abwehrzentrum nicht nur Größe, sondern vor allem auch Tempo. Favre müsste improvisieren in der Dreierkette. Die logische Wahl wäre, Manuel Akanji nach links zu verschieben und rechts neben Mittelmann Mats Hummels entweder Lukasz Piszczek oder Emre Can aufzubieten. Zwei „umgeschulte“ Kräfte, denn einen vierten gelernten Innenverteidiger sucht man im Kader der Borussia vergeblich.
Ohne die Möglichkeit, rechts in der Dreierkette mit Akanji zu spielen, wäre das Geschwindigkeitsdefizit an dieser Stelle offensichtlich. Bei Bällen in die Tiefe über die in diesem System hoch stehenden Außenverteidiger hinweg müsste Hummels entweder Piszczek/Can oder links Akanji zur Hilfe eilen. Die potenzielle Schwachstelle wäre auf Piszczeks Seite, der BVB kompensierte sie aber zum Beispiel beim Sieg in Leipzig (2:0) nahezu in Perfektion, als Hummels den Polen und Can an seiner Seite hatte und sich auch die mit flinken Stürmern besetzte RB-Offensive an diesem Trio die Zähne ausbiss. Auch in den meisten anderen Partien funktionierte Dortmund mit der Dreierkette gut. Die Punktausbeute spricht ebenso eine klare Sprache wie die deutlich geringere Zahl an Gegentoren, wenn man die am Ende bedeutungslosen Partien gegen Mainz und Hoffenheim aus der Statistik mal ausklammert.
Vollzieht BVB-Trainer Lucien Favre noch eine Kehrtwende?
Große Möglichkeiten, innerhalb dieses Verbundes zu rotieren, gäbe es bis zu einer Zagadou-Rückkehr allerdings nicht. „Momentan“, klagte Dortmunds Trainer zuletzt angesichts der Personalprobleme im Defensivbereich, „könnten wir die Dreierkette nicht spielen.“ Er habe schlicht „zu wenige Innenverteidiger“. Dennoch spricht einiges dafür, dass der Schweizer noch eine Kehrtwende vollzieht. Denn mit dem vorhandenen Personal eine funktionierende Viererkette aufzustellen, gestaltet sich nicht minder schwierig.
Dort stehen die Außenverteidiger deutlich tiefer. Thomas Meunier bietet rechts die notwendige Stabilität. Die Anfälligkeit, bei schnellen Kontern über diese Seite überlaufen zu werden, wäre nicht mehr gegeben. Auch Raphael Guerreiro links kann den defensiven Raum schließen. Doch hat Dortmund ausreichend geschulte Innenverteidiger? Ohne Zagadou bleiben nur Hummels und Akanji. Lukasz Piszczek ist gelernter Rechtsverteidiger, Emre Can konnte in den Tests bislang nicht die Vorbehalte gegen die These zerstreuen, an dieser Stelle besser aufgehoben zu sein als im defensiven Mittelfeld.
Guerreiro fremdelt unübersehbar mit seiner neuen BVB-Rolle
Die große Stärke, die Dortmund in der vergangenen Saison aus der Umstellung auf eine Dreierkette zog, beruhte vor allem aus den offensiven Qualitäten der Außenspieler Achraf Hakimi und Guerreiro. Bei Ballgewinn agierten sie nahe der Mittellinie oder schon in der gegnerischen Hälfte und schoben mit Tempo und Spielwitz die Dortmunder Angriffe an. Auch Meunier hat dort seine Stärken, wenngleich er ein anderer Spielertyp ist als Hakimi. Spielen die Außenverteidiger jedoch in einer Viererkette, ist der Weg nach vorne für beide extrem weit. Vor allem Guerreiro fremdelte in den bisherigen Tests unübersehbar mit dieser Rolle, weil sie ihm viel von seinen Stärken nimmt.
Vielleicht gibt das Testspiel gegen Sparta Rotterdam Aufschluss darüber, ob der Trainer bei seinem Lieblingssystem bleibt oder doch dem erneuten Wunsch der Mannschaft nachgibt. Trainiert hat Favre die Dreierkette seit Beginn der Vorbereitung erst einmal, bis die Nationalspieler von ihren Reisen zurückgekehrt sind, bleibt das weiter nur eingeschränkt möglich. Favres Zögern hat seine Gründe, das klare Signal wird aber sehnlichst erwartet.
Dirk Krampe, Jahrgang 1965, war als Außenverteidiger ähnlich schnell wie Achraf Hakimi. Leider kamen seine Flanken nicht annähernd so präzise. Heute nicht mehr persönlich am Ball, dafür viel mit dem Crossbike unterwegs. Schreibt seit 1991 für Lensing Media, seit 2008 über Borussia Dortmund.
