Jan Benkhoff (22) aus Ahaus ist erstaunt, wie viele Autofahrer an der Unfallstelle einfach vorbeigefahren sind. Zufällig hatte der Ersthelfer nach dem Unfall auf Facebook die Suche nach ihm gesehen. "Ist doch selbstverständlich, dass ich geholfen habe", sagt er.

© Stephan Rape

Ersthelfer (22) ist schockiert: „Zig Autos sind an uns vorbeigefahren“

rnUnfall auf K63

Eine Frau verunglückt mit ihrem Auto zwischen Wessum und Ottenstein. Minutenlang steht sie verletzt neben ihrem Auto. Niemand hält an. Für Jan Benkhoff war es gar keine Frage zu helfen.

Ahaus

, 22.02.2022, 04:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Natalia Rutkowska ist immer noch schockiert: Die 30-Jährige aus Weseke ist vor einigen Tagen am späten Abend mit ihrem Auto auf der Kreisstraße 63 zwischen Ottenstein und Wessum verunglückt. Doch zig Autofahrer seien einfach an ihr vorbeigefahren, ohne zu helfen.

Jetzt lesen

Die Unfallmeldung der Polizei liest sich vergleichsweise unspektakulär: In einer leichten Rechtskurve sei die Frau nach rechts von der Straße abgekommen. Der Wagen überschlug sich, dabei verletzte sich die Frau. Die Autofahrerin wolle einem Tier ausgewichen sein. Der Sachschaden werde auf rund 3.500 Euro geschätzt, die Frau sei ins Krankenhaus gekommen.

Viele Autofahrer sind einfach weitergefahren

„Mich haben so viele gesehen, aber die sind einfach weitergefahren“, sagt sie. Ein schrecklicher Eindruck. Im Rückblick kann sie schlecht einschätzen, wie lange sie dort gestanden hat. 10 Minuten, vielleicht 15, schätzt sie vorsichtig. Auf die Uhr habe sie nicht gesehen. Ihr Handy ging bei dem Unfall zu Bruch. „Ich stand blutend neben meinem Auto und konnte nichts machen“, fügt sie hinzu.

Auf der K63 zwischen Wessum und Ottenstein war die 30-jährige Natalia Rutkowska aus Weseke verunglückt. Etliche Autofahrer sind einfach an der Unfallstelle vorbei gefahren, ohne zu helfen.

Auf der K63 zwischen Wessum und Ottenstein war die 30-jährige Natalia Rutkowska aus Weseke verunglückt. Etliche Autofahrer sind einfach an der Unfallstelle vorbeigefahren, ohne zu helfen. © Stephan Rape

Das bestätigt Jan Benkhoff. Der 22-jährige Ahauser war an diesem Abend ebenfalls von Wessum in Richtung Ottenstein unterwegs. Eine Strecke, die er regelmäßig fährt. Seine Freundin wohnt in Lünten. Wie üblich sei dort noch relativ viel Verkehr unterwegs gewesen. Es müsse so gegen 22 Uhr gewesen sein. „Aus einiger Entfernung hab ich schon gesehen, dass da ein Auto quer im Graben stand und den Warnblinker an hatte“, sagt er.

Jan Benkhoff: „Das war einfach grausam“

Sofort habe er angehalten. „Die Frau stand neben mir und war völlig fertig“, erinnert er sich. Sofort habe er den Notruf angerufen. 10 oder 15 Autos seien einfach weitergefahren. „Die haben nicht mal gebremst“, sagt er. Dabei seien sowohl der Unfallwagen als auch sein eigenes Auto gut zu sehen gewesen. „Das war einfach grausam“, sagt er.

Bis auf die leichten Verletzungen sei es der Frau gut gegangen. „Aber das hätte ja auch anders sein können“, fügt er hinzu. Was gewesen wäre, wenn es mehrere Verletzte gegeben hätte oder die Frau bewusstlos gewesen wäre, mag er sich lieber nicht vorstellen.

Bis der Rettungswagen eintraf, dauerte es eine Zeit. Auch da fuhren noch mehrere Fahrzeuge einfach weiter. Sie hätten ja sogar einen kleinen Bogen um den Unfallwagen und sein Fahrzeug schlagen müssen. „Zwei Autofahrer haben wenigstens kurz gestoppt und durch das offene Fenster gefragt, ob wir Hilfe bräuchten“, erzählt er.

„Man muss doch einfach helfen“

Für ihn ist selbstverständlich, dass er in so einem Fall hilft: weil er nicht nur Tischler, sondern auch betrieblicher Ersthelfer ist. Das gehöre doch schlicht zum Führerschein dazu. „Man muss doch einfach helfen“, sagt er. Die Autofahrer, die an der Unfallstelle vorbeifuhren, mag er bis heute nicht verstehen.

Jetzt lesen

Natalia Rutkowska malt sich die Situation noch etwas schlimmer aus: An jenem Abend hatte sie zwei Kindersitze im Auto. Den ihrer eigenen Tochter und den des Nachbarkindes. Die hatte sie am Morgen zur Kita gebracht. „Was wäre gewesen, wenn ich die Kinder im Auto gehabt hätte“, sagt sie.

Nach dem Unfall hatte sie die Spur zu „ihrem“ Ersthelfer verloren. Per Facebook suchte sie nach ihm. Binnen kürzester Zeit wurde der Aufruf zigfach geteilt. „Ich hab es durch Zufall gesehen“, sagt Jan Benkhoff lachend. Kurz haben sie hin- und hergeschrieben. „Sie hat sich bedankt, ich hab gehört, dass alles in Ordnung ist. Das reicht mir ja“, sagt er.

Unterlassene Hilfeleistung kann schwer bestraft werden

Aus polizeilicher Sicht ist die Sache klar. Wer an einer Unfallstelle vorbeifährt, ohne zu helfen, begeht eine Straftat: Unterlassene Hilfeleistung wird mit Geldstrafen oder bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet.

„Wenigstens einen Notruf muss man absetzen“, erklärt Dietmar Brüning von der Pressestelle der Polizei im Kreis Borken. Denn natürlich gebe es auch typische Situationen, in denen Ersthelfer Bedenken haben könnten. „Beispielsweise, wenn eine Frau nachts alleine auf einer dunklen Landstraße unterwegs ist und dort einen Unfall sieht“, erklärt er. Natürlich könne man dann verstehen, dass sie nicht unbedingt aussteigen wolle.

Aber mit dem PKW und eingeschaltetem Warnblinklicht die Unfallstelle abzusichern und den Notruf zu rufen, das sei jedem zuzumuten. Immer.

Insgesamt sieht er die Lage im Kreis Borken aber entspannt. „Die Hilfsbereitschaft ist hoch“, sagt er. Zwar erhebe die Polizei in diese Richtung keine Zahlen und auch ein Vergleich mit anderen Region sei weder möglich noch zielführend. Aber insgesamt funktioniere das im Kreis Borken eigentlich sehr gut.

Erste Hilfe am Unfallort

„Das einzig Falsche ist es, nichts zu tun“, schreibt der Allgemeinde Automobilclub Deutschland (ADAC) in seinen Hinweisen rund um die Erste Hilfe am Unfallort. Für Verletzte seien oft die ersten Minuten nach dem Unfall lebenswichtig. Dabei steht trotzdem die Eigensicherung an oberster Stelle. Deswegen gilt folgender Ablauf:
  • Unfallstelle absichern – mit dem eigenen Fahrzeug und eingeschalter Warnblinkanlage sowie mit dem Warndreieck. Auch wer sich an der Unfallstelle bewegt, um zu helfen, muss immer den Verkehr beobachten, um nicht selbst in Gefahr zu geraten.
  • Unfallopfer aus der Gefahrenzone bringen
  • Notruf absetzen: 110 für die Polizei, 112 für Rettungskräfte und die Feuerwehr
  • Erste-Hilfe-Maßnahmen (falls nötig)
Detailliertere Anweisungen für den Ernstfall bietet der ADAC online an.