Im Nieselregen stehen Ludwig Niestegge und Renate Schulte am Donnerstagnachmittag (23.2.) vor dem Eingang des Ahauser Amtsgerichtes. Oft sind sie in den vergangenen Jahren durch diese Tür gegangen. Nicht als Angeklagte, sondern als Schöffen - als Laien-Richter ohne juristische Ausbildung.
Beide üben dieses Tätigkeit bereits in ihrer zweiten Amtsperiode aus. Seit etwa zehn Jahren unterstützen sie die Richterinnen und Richter dabei, Urteile zu fällen. Für Niestegge werde dieses Jahr jedoch das letzte Jahr als Schöffe sein, sagt der 69-Jährige.
Bewerbungsfrist für Schöffen läuft
Für eine dritte Amtszeit vom 1. Januar 2024 bis zum 31. Dezember 2028 bewirbt er sich unter anderem aus Altersgründen nicht mehr. Denn, so heißt es in einer Pressemitteilung der Stadt, die Bewerberinnen und Bewerber sollten zu Beginn der Amtszeit zwischen 25 und 69 Jahren alt sein. Wer sich für das Ehrenamt als Erwachsenenschöffe interessiert, kann seine Unterlagen noch bis zum 30. April 2023 bei der Stadt einreichen.
Insgesamt 29 Frauen und Männer werden gesucht, „die am Amtsgericht Ahaus und am Landgericht Münster als Vertretende des Volkes an der Rechtsprechung teilnehmen“, schreibt die Stadt weiter. Diese werden durch den Wahlausschuss der Amtsgerichte gewählt.

So ähnlich lief es auch vor gut zehn Jahren ab, als Niestegge und Schulte - die beide auch lokalpolitisch aktiv sind - ihr Ehrenamt angetreten haben. Ihre Parteien hätten sie dafür vorgeschlagen, sagen sie.
Zweites Ehrenamt für Ludwig Niestegge
Niestegge erläutert: „Ich bin in den Vorruhestand gegangen. Da dachte ich mir, dass ich noch ein zweites Ehrenamt wahrnehmen kann.“ Sein Gerechtigkeitsempfinden sei nicht das erste Argument gewesen.

Neben dem Interesse an der Arbeit des Gerichts haben Niestegge und Schulte keinerlei juristische Ausbildungen hinter sich. Niestegge war vor seiner Pensionierung als Ingenieur bei einem Mobilfunkanbieter tätig. Schulte arbeitet mit Kindern und Jugendlichen in einer Offenen Ganztagsschule (OGS).
Schulte sagt: „Mich interessiert grundsätzlich das Leben von Kindern. Ich möchte verstehen, warum sie handeln, wie sie handeln.“ Verbinden könne sie das gut mit ihrem Amt als Jugendschöffin. „Auffällig ist, dass die Angeklagten oftmals junge Männer aus unterschiedlichen Bereichen sind.“ Bei vielen von ihnen zeichne sich eine kriminelle Karriere ab.
Menschliche Abgründe tun sich auf
Als Mutter von drei Kindern könne sie sich besonders gut an einen Fall erinnern, bei dem ein neunjähriges Mädchen unter anderem durch den Bruder sexuell missbraucht worden sei. „Das Mädchen war mir zudem bekannt. Da leidet man mit, auch mit den Eltern“, sagt Schulte. Sie gibt zu, dass sie sich in Gedanken auch nach der Gerichtsverhandlung noch mit dem Fall beschäftigt habe.

Niestegge kennt dieses Gefühl gleichermaßen. Er habe als Schöffe erlebt, wie sich das Gericht mit einem angeblichen Professor des Krankenhauses in Stadtlohn beschäftigt hat. Dieser habe sich die Stelle ohne Zulassung erschlichen. Zusätzlich erinnert er sich an die Verhandlung zu einer Vergewaltigung in Vreden, bei der die Betroffene im Zeugenstand den möglichen Täter nicht genau habe identifizieren können. Der Angeklagte sei daraufhin freigesprochen worden. „Im Nachhinein fragt man sich dann, ob das die richtige Entscheidung war.“
Getroffen würden diese, so Niestegge, von einem hauptberuflichen Richter und zwei Schöffen. „Jede Stimme zählt gleich. Der Richter fragt uns nach unseren Meinungen und erläutert uns die Situation“, sagt der 69-Jährige. Auch Schulte bestätigt: „Die Zusammenarbeit mit den Richtern ist super. Man wird sehr ernst genommen.“
„Man kann ganz viel mitnehmen“
Doch warum tauchen Niestegge und Schulte freiwillig und ehrenamtlich teilweise bis in die menschlichen Abgründe ab? Schulte schildert ihre Sicht: „Man kann ganz viel mitnehmen. Das Amt hat mich geerdet - auch im Umgang mit den eigenen Kindern. Ich sehe einige Sachen nicht mehr ganz so eng. Schließlich weiß ich, dass es oft Schlimmeres gibt.“ Denn viele der Angeklagten treten aus der Tür des Ahauser Amtsgerichtes als verurteilte Kriminelle nach draußen.
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