Unter den dicken Regenwolken, die der Sturm vor sich herjagt, lässt sich der abnehmende Halbmond kaum erkennen. Zum Jahreswechsel 2023/24 wird es nicht eine dieser „hellen Nächte“ sein, in denen sich die weiße Frau und ihre Geisterkinder in der Lippeaue in Werne-Lenklar zeigen. Dass die Wiesen dort gerade überflutet sind, würde die Gespenster dagegen weniger stören. Denn die Macht des Wassers wussten sie schon vor 750 Jahren geschickt zu bändigen. Dem Machtmissbrauch durch die Obrigkeit hatten sie dagegen nichts entgegenzusetzen - zumindest nicht zu Lebzeiten.
„Nein“, sagt Hubertus Waterhues (59). In seiner Stimme schwingt so etwas wie Bedauern mit. Persönlich begegnet sei er den Spukgestalten nie. Obwohl er auf dem Hof Waterhues an der Lippe aufgewachsen ist: einem der ältesten Bauernhöfe der ganzen Region, der schon alt war, als die weiße Frau und ihre Kinder dort noch lebten. Mangel an Gelegenheit ist es wohl nicht gewesen, dass der Werner Buchhändler die Gespenster nie traf. Bei Vollmond beißen die Fische bekanntlich besonders gut. Und Hubertus Waterhues war schon früh begeisterter Angler: eine Vorliebe, die auch schon sein Urahn teilte: der Ehemann der weißen Frau. Genau daran entzündete sich im 13. Jahrhundert ein Streit, der auch im 21. Jahrhundert die Gemüter bewegt. Und die Toten nicht ruhen lässt.
„Mein Großvater“, sagt Waterhues, „ist der Letzte der Familie, der die weiße Frau gesehen hat.“ Nicht nur einmal , sondern mehrfach. Dabei war Opa Wilhelm alles andere als ein esoterischer Geisterseher ohne Bodenhaftung. Im Gegenteil: Der kurz vor der Geburt seines Enkels Verstorbene stand mit beiden Beinen im Leben und war als Bauer stets fest mit dem Hof und seinem Grund und Boden verbunden - genauso wie die Geister des Mittelalters.
Wappen mit Lippebogen
Sie gehören zur langen Familiengeschichte genauso wie das Haus am Wasser und das Familienwappen: Schild mit Balken wie das Werner Stadtwappen, nur mit einem Halbkreis darüber, der dem Lippebogen gleicht. Angst, diesen Geistern zu begegnen, habe er deshalb auch nie gehabt, sagt Waterhues. „Warum auch: Das sind ja meine Leute.“ Sie wandelten schließlich nicht durch die Auen, um ihren Nachfahren Böses zu tun, sondern um die Erinnerung an das Unrecht wach zu halten, das ihnen angetan wurde.
Die von Dirk Sondermann herausgegebenen „Lippesagen. Von der Mündung bis zur Quelle“ stehen im Regal von Waterhues‘ Buchhandlung am Werner Kirchplatz. Er braucht aber nicht danach zu greifen, um die Geschichte zu erzählen. Während unablässig der Regen an das Schaufenster schlägt und sich in großen Pfützen sammelt, lässt er mit ruhiger Stimme die Vergangenheit lebendig werden. Das aktuelle Hochwasser hilft dabei, sich die Situation auszumalen.

Wo ist das Flussbett und wo sind Altarme der Lippe? Seit Weihnachten 2023 ist das nicht auszumachen. Die ganze Aue unterhalb des Hofes Waterhues hat sich in eine graubraune, hin und her wogende Fläche verwandelt. Das war in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auch nicht anders, wenn der Fluss über die Ufer trat. „Der Hof lag auch damals schon auf einer natürlichen Anhöhe, sodass er zwar regelmäßig vom Wasser eingeschlossen, aber geschützt war“, sagt Waterhues. Dass das Gebäude ursprünglich etwas weiter versetzt lag, bis es vor rund 300 Jahren abbrannte und am heutigen Standort neu errichtet wurde, macht da fast keinen Unterschied. Bis auf die Gräften: den Wassergräben, an denen der schicksalhafte Streit damals entbrannte.
Streit Um Fischereirecht
Natürlichen Ursprungs seien diese Gräben gewesen sagt Waterhues. Nicht vorsätzlich gegraben, wie es seinen Ahnen später zum Vorwurf gemacht werden würde. Aber egal, wie sie entstanden sein mögen: Die Vertiefungen rund um den Hof funktionierten damals so wie heute. Floss die Lippe nach der Überschwemmung wieder zurück, blieb in den Mulden Wasser zurück - mitsamt den Fischen. Zur Freude der Waterhues-Familie und ihres Gesindes, das die gesunden Eiweiß-Lieferanten nur noch mit dem Kescher herauszuheben und in die Küche zu bringen brauchten. Und zum Ärger der Besitzer der Fischereirechte, die sich um ihr Eigentum betrogen sahen: die Stiftsherren des Prämonstratenser-Klosters Cappenberg.
1122 hatte Gottfried von Cappenberg seinen Besitz dem jungen Orden geschenkt und auf seiner einstigen Familienburg das erste Prämonstratenserkloster auf deutschem Boden gegründet. Familie Waterhues, sechs Kilometer weiter östlich, wird zu diesem Zeitpunkt wohl bereits an der Lippe gewirtschaftet haben - als freie Bauernfamilie mit eigenem Hof und Land. Und mit fischreichen Gräften darauf. Zumindest bis 1290, dem Todesjahr von Wilhelm Waterhues.
Verzicht auf Eigentum
Dass Geburten und Todesfälle das arbeitsreiche Leben auf dem Hof seit Generationen begleiten, weiß Witwe Mechthildis. Was sie kurz nach dem Tod ihres Mannes erlebt, ist aber anders: eine Zäsur, die nicht nur ihren Alltag, sondern den aller Waterhues‘ die nächsten Jahrhunderte bestimmen sollte. Der Cappenberger Propst Hartlevus macht ernst. Er beendet mit der Macht seines Einflusses und seines geistigen Standes den schon lange schwelenden Streit. Der tote Wilhelm und dessen Vorfahren hätten, so sagt Kirchenmann Hartlevus, Schuld auf sich geladen durch das Vorenthalten der Fische. Die Seelen der Verstorbenen litten deswegen Pein im Jenseits. Höchste Zeit, dass sich die Angehörigen kümmerten - durch Gebete und durch eine Verzichtserklärung.
Ob Mechthildis das glaubt oder nur keine Kraft hat, sich zu wehren? Fest steht, dass sie 1290 „freiwillig“, wie es in einer Urkunde aus dem Jahr heißt, nicht nur auf das umstrittene Fischereirecht in den Gräften, sondern auch auf Hof und Land verzichtet. Fortan sind die freien Bauersleute Waterhues bis zur Bauernbefreiung unter Freiherr vom Stein Lehnsnehmer ihres einstigen Eigentums und damit Abhängige des Klosters. Der ältere Sohn durfte auf dem Hof bleiben. Mechthildis und ihrer Tochter blieb dagegen nur der Eintritt ins Cappenberger Frauenkloster unterhalb des Berges auf Langerner Seite: eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wie nicht nur Nachfahre Hubertus Waterhues meint.
„Die im Volke entstandene Unruhe mag ein Grund sein für die Entstehung der Sage“, vermutet auch Dirk Sondermann, der Sagen-Sammler des Ruhrgebiets. Oder es sprach sich nur herum, was zuletzt Hubertus Waterhues‘ Opa mit eigenen Augen sah.
Die weiße Frau zeigt sich „in hellen Nächten“ um Mitternacht in der Aue. Oft hat sie zwei Kinder bei sich: ein Mädchen, das einen Blumenkorb trägt, und einen Jungen. Sobald sie jemand anspricht, sind sie nicht mehr zu sehen.
Vertrieben vom Kraftwerk?
Warum sich die drei Gespenster seit Mitte der 1960er-Jahre so rar gemacht haben? Hubertus Waterhues zuckt mit den Schultern. Vielleicht wegen des mächtigen Nachbarn, den der Hof Waterhues bekam: das Kohlekraftwerk Heil auf der anderen Seite der Lippe. 1982 ging es ans Netz. 1988 siedelte Familie Waterhues um auf den Hof Norwegen in Schleswig-Holstein. Nur der älteste Sohn, Hubertus, blieb: erst als Germanistikstudent in Münster, später als Buchhändler in Werne. Ende März 2024 werden beim Kraftwerk jenseits der Lippe die Lichter endgültig ausgehen. Ob dann die weiße Frau wieder durch die nassen Wiesen streifen wird? Eines steht für Hubertus Waterhues fest: Angst brauche vor ihr niemand zu haben. Gefährlicher als Gespenster, ob seine drei Verwandten oder auch andere, seien in jedem Fall Menschen. Zu jeder Zeit.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist zum ersten Mal am 31. Dezember 2023 erschienen. Wir haben ihn jetzt erneut veröffentlicht.
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