Meist fließt die Lippe gemächlich und träge dahin. Anders an diesem grauen Dezembertag 2023. Der Sturm peitscht die hohen Wassermassen nur so in Richtung Haltern: schäumend, rasend, rauschend. Wer jetzt in diesen reißenden, braunen Fluss fällt, ist verloren. So wie einst Dietrich.
Er habe seine gerechte Strafe erlitten, will die Lippe-Sage „Das Ende des Grafen von der Rauschenburg“ wissen. Bei allem, was er seiner armen Margarete angetan hat, mag man das gerne glauben. Die mehr als 900-jährige Geschichte der Grenzburg zwischen Münsterland und Ruhrgebiet weiß aber auch noch von einer ganz anderen Frau namens Margarete zu berichten.
Mit Blick auf den stürmischen Lippe-Fluss zuerst zurück zur Sage und zum Grafen, Dietrich. Dirk Sondermann, der Gründer des Instituts für Erzählforschung im Ruhrgebiet und Herausgeber der gesammelten Lippe-Sagen, meint in ihm „stark verschlüsselt“ Dietrich von Oer erkennen zu können: den Spross der Herren vom Vest, die im Machtkampf gegen den Landesherrn in Köln unterlegen waren und sich 1397 auf die Rauschenburg zurückziehen mussten. Dietrich war der letzte aus dieser Reihe. Er starb 1477 kinderlos und „ohne sichtbare Spuren hinterlassen zu haben“, wie der Historiker Dr. Werner Frese schreibt. Ob dieser Leisetreter der Geschichte tatsächlich das Vorbild für den sagenhaften Tyrannen war, muss offen bleiben. Ob es seine unglückliche Margarete aus Datteln wirklich gab, ebenfalls. Von der anderen Margarete, die einst auf der Rauschenburg lebte, liebte und vielleicht auch mordete, gibt es dagegen historische Zeugnisse.
Flucht aus der Hölle
Die Margarete aus der Sage ist die Tochter des Dattelner Organisten: ein junges Mädchen, das das Pech hat, zufällig dem mächtigen Grafen Dietrich zu begegnen. Er zwingt sie zur Heirat, vergewaltigt und demütigt sie. Als sie sein Kind erwartet, flieht sie aus der Hölle der Rauschenburg. Nur fort. Zurück zu den Eltern? Zu unsicher, meinen die. Da werde der Graf zuerst suchen. Besser sei ein Versteck im tiefen Tannenwald bei Haus Löringhof, einst eine sogenannte Sumpfburg in nur schwer zugänglichem Gelände am heutigen am Dortmund-Ems-Kanal.
Kaum ist Margarete ins Unterholz gekrochen, kommen die Wehen. Alleine und unter freiem Himmel bringt Margarete ihr Baby zur Welt. Gerade hält sie es erschöpft im Arm, da bebt der Boden unter den Hufen berittener Soldaten. An ihrer Spitze: Graf Dietrich. Er findet seine Frau, springt vom Pferd und hat schon die Arme ausgestreckt, um ihr den Säugling zu entreißen, als ein greller Blitz in den Boden fährt. Es braucht einen Augenblick, bis die Männer wieder sehen können. Dann erkennen sie: Die junge Frau und ihr Kind sind zu Stein geworden.
Die Sage erzählt, dass der Graf in wilder Hast nach Hause ritt: vier Kilometer in Richtung Norden. Unmittelbar vor der Rauschenburg - da wo bis zum ersten Brückenbau 1870 eine Fähre pendelte - jagte er sein Pferd in die Lippe. Ob die Strömung so stark wie im Dezember 2023 war oder das Pferd nur zu erschöpft: Der Fluss riss Pferd und Reiter mit sich. Margarete von Morrien wird diese schreckliche Geschichte von Gewalt und Unterdrückung so oder so ähnlich auch schon erzählt bekommen haben, als sie 1538, mehr als 60 Jahre nach dem echten Dietrich von Oer, auf die Rauschenburg zog. Sie wollte auf jeden Fall nicht als steinernes Standbild enden. Selbstbestimmt leben und lieben konnte sie auf der Schwelle zwischen Mittelalter und früher Neuzeit aber auch noch nicht.
„Gute Partie“ aus Nordkirchen
Margarete Morrien ist das, was man auf der Rauschenburg eine gute Partie nennt. Nicht allein wegen ihrer Mitgift, sondern vor allem dank der guten Beziehungen. Vater Gerd Morrien ist als Erbmarschall des Hochstifts Münster einer der mächtigsten Männer weit und breit, Spross einer der fast 400 Jahre lang führenden Familien des Ritterstandes und Erbe von Schloss Nordkirchen, dessen erste Burg sein Urgroßvater Gerhard errichtet hat. Mit dieser Verbindung sollen Johann Hake, dem jungen Erben der Rauschenburg, viele Türen offen stehen. Ganz sicher öffnet sich für ihn nur eine Tür: die zum Friedhof und das früher als erwartet. Und wohl nicht zufällig.
Wie alt Margarete und Johann genau sind, als sie heiraten, ist nicht bekannt. Er habe gerade die Volljährigkeit erreicht, schreibt Werner Frese nur, der Herausgeber der 2011 erschienen „Geschichte der Stadt Olfen“. Volljährigkeit war zur damaligen Zeit noch nicht genau definiert. Über 14-Jährige galten im Mittelalter grundsätzlich als volljährig, wobei Frauen rechtlich mit ihrer Heirat von der Vormundschaft des Vaters nur in diejenige des Ehemannes übertraten. In Margaretes Fall in die Vormundschaft ihres Cousins.
Cousin ist Bräutigam
Die jungen Eheleute, die wie damals selbstverständlich niemand nach ihren eigenen Plänen und Vorlieben gefragt hat, kennen sich von klein auf, Sie sind Verwandte vierten Gerades. Um die Ehe zu ermöglichen, ist eine Genehmigung aus Rom nötig. Schon zwei Jahre bevor diese kirchliche Prüfung endet - mit der erhofften Erlaubnis - sind die Zwei getraut. Glücklich wird die Verbindung wohl nie. Sonst hätten Johanns Mutter und sein Stiefvater nicht gleich von Giftmord gesprochen, als Johann mit höchsten 30 Jahren plötzlich stirbt: ein Vorwurf, den Margarete und ihr mächtiger Vater nicht auf sich sitzen lassen wollen. Sie reichen eine Verleumdungsklage in Münster. Zumindest der Erbmarschall wird nicht geahnt haben, was er damit lostritt.
Gerd Morrien, Margaretes Vater, hat zehn eheliche Kinder: Wie viele uneheliche, ist nicht überliefert. Wohl aber, dass es zumindest einen Sohn aus einer anderen Verbindung gibt. Er heißt wie der Vater Gerd Morrien und hat die Pfarrstelle zu Nordkirchen inne, wenngleich er kein Priester ist. Dieser junge Gerd ist nicht nur Margaretes Halbbruder, sondern auch ihr Geliebter. Das bleibt nicht ohne Folgen, wie bei ihrem Zeitgenossen, Georg Spormecker, nachzulesen ist. Der gebürtige Lüner, der als Pfarrer in Dortmund, Lünen und Herbern tätig war, hat sich als Chronist einen Namen gemacht - nicht nur der Geschichte seiner Heimatstadt, sondern auch der Skandale vor der Haustür.
Kind mit dem Halbbruder
Im September 1551 bringt Margarete ein Kind zur Welt: der Sohn von Gerd von Morrien, dem Jüngeren, und der Enkel von dessen gleichnamigen Vater, der zugleich ihr eigener ist. Was aus diesem Kind wird, ist nicht überliefert, anders als das Schicksal seiner Eltern.
Gerd Morrien, der Kindsvater, wird nach Ahaus gebracht. Im dortigen Wasserschloss lässt der Bischof ihn verhören. Er gibt die unerlaubte Beziehung zu. Und viele andere ebenso. Es gebe, heißt es, kaum eine Frau in Nordkirchen, mit der er nicht geschlafen habe. Eine Aussage, die möglicherweise unter der Folter zustande gekommen ist. Gerd Morrien kommt nach dem Geständnis nach Ascheberg ins Gefängnis. Dort bleibt er aber nicht lange - dank der guten Beziehungen seines Vaters.
Bei der Tochter vermag - oder mag - der Erbmarschall nicht so viel zu bewirken. Dass sie nicht auf der Rauschenburg würde bleiben können, ist klar. Aber wohin dann? Der Vater will sie in Südkirchen unterbringen. Und scheitert am Widerstand aus der Bevölkerung, wie Spormecker schreibt. In Coesfeld das gleiche. Sie kommt schließlich nach Nordkirchen, bleibt dort aber nicht lange und wird schließlich nach Marsberg abgeschoben.
Die zu Weihnachten 2023 so mächtig dahinrauschende Lippe macht die Jahrhunderte vergessen. Die Wassermassen unweit der letzten Mauerreste der vor 195 Jahren abgerissenen Rauschenburg verschlingen nicht nur Leben, sondern auch Hass und Unrecht: sowohl das, was der brutale Graf Dietrich aus der Sage getan hat, als auch das, was Margarete Morrien zur Last gelegt wird.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist ursprünglich im Dezember 2023 erschienen. Wir haben ihn jetzt erneut veröffentlicht.
