Beruflicher Stress, private Sorgen – eine Kombination, die Dieter Weber (68) in die Alkoholsucht treibt. Erst spät sieht er ein, dass er ein Problem hat. Jetzt ist er 27 Jahre trocken.

Werne

, 07.08.2018, 12:15 Uhr / Lesedauer: 5 min

Immer dienstags leitet Dieter Weber* (68) am Ostring in Werne eine Suchtberatungsgruppe. Die Teilnehmer, meistens um die zehn, stellen sich vor und sagen den bekannten Satz: „Ich bin XY und ich bin Alkoholiker.“

Auch Weber sagt den Satz: „Ich bin Dieter und ich bin Alkoholiker“. Heute sagt er es offen. Doch lange Zeit wollte er es nicht wahrhaben und leugnete seine Sucht vehement. Jetzt ist er 27 Jahre trocken und bereit, seine Geschichte zu erzählen.

Strenge Erziehung

Weber wächst in der Nachkriegszeit auf. Seine Eltern flüchten aus der DDR in die Bundesrepublik. Genauer gesagt nach Selm. Vater Heinz ist Bergmann auf der Zeche Minister Achenbach, Mutter Eva ist Hausfrau. Dieter ist das zweitjüngste von vier Kindern. „Wir haben nicht in Armut gelebt, aber viel Geld war nie da.“

Weber wird streng erzogen. Hin und wieder gibt es eine Ohrfeige vom Vater, „aber das war früher normal“. Als Grund für seinen späteren Absturz in die Alkoholsucht dient das nicht. „Die Erziehung hat mir nicht geschadet“, sagt er und spricht von einer wohlbehüteten Kindheit.

Alkohol ist in der Familie kein Thema

Alkohol ist in der Familie kein großes Thema. Seine Eltern trinken kaum, werden ihrer Vorbildfunktion in dieser Hinsicht gerecht. Mit 18 fängt Weber an, regelmäßiger Alkohol zu trinken.

In einer Dreier-Clique zieht er an Wochenenden los. Streifzüge durch Diskotheken sind in dem Alter völlig normal. „Wir haben auch mal über die Stränge geschlagen, aber meistens haben wir nur in Maßen getrunken“, erinnert er sich. Er spricht von einem normalen Alkoholverhalten. Für ihn ist es zu dieser Zeit nicht schwer, auch mal wochenlang gar nichts zu trinken. Die Probleme und der Kontrollverlust kommen erst später.

Zu Anfang kein Ehrgeiz im Beruf

Mit 23 zieht er aus, mit 24 heiratet er seine Frau Rosi*. Alkohol ist auch in dieser Zeit nichts, was Weber groß beschäftigt oder gar über sein Leben bestimmt. Er macht eine Ausbildung zum Pelzfachmann (Kürschner genannt) in Lünen. Seine Motivation hält sich in Grenzen. „Ich war kein guter Kürschner, ich hatte keinen Ehrgeiz und habe nur das Nötigste gemacht.“

Weber wiegt damals 50 Kilogramm bei 1,75 Meter Körpergröße. Ein Leichtgewicht. Da sein Körper kaum Fettzellen produziert, wird sein Blutzuckerspiegel angegriffen. Mehrmals macht sein Kreislauf Probleme und er bricht zusammen. Er muss zur Kur, verliert seinen Job.

Neue Motivation im Job, zunehmender Druck

Rückblickend nennt er diese Phase den „Einstieg“ in seine Alkoholabhängigkeit. Nicht weil er seine Arbeit verloren hatte. Er findet eine neue Stelle in Dortmund. Dort folgt dann sogar die Beförderung zum Werkstattleiter. „Ich habe gelernt, mit Kunden umzugehen. Mein Ehrgeiz war geweckt“, so Weber. Er ist beruflich auf der Erfolgsspur, verdient mehr, will immer besser werden.

Damit steigt auch der Druck, den er sich aber selbst macht. Die Angst, Fehler zu machen, Nervosität – all das hat auch mit der Art, wie er erzogen ist, zu tun. „Meine Eltern haben mich immer an der kurzen Leine gehalten. Ich durfte keine Fehler machen und eigene Erfahrungen sammeln, um daraus zu lernen“, schildert Dieter Weber.

Geburt der Kinder

Die Geburt der Kinder erhöht seinen Stresslevel im Privatleben zusätzlich. Arbeit und Privates drohen ihm, über den Kopf zu wachsen. Weber hat Angst, den Erwartungen nicht gerecht zu werden: „Ich habe immer gedacht, das reicht nicht.“ Er wechselt die Firma, der Druck bleibt. Weber greift zur Flasche.

Zum Schutz seines Umfelds möchte unser Gesprächspartner anonym bleiben.

Zum Schutz seines Umfelds möchte unser Gesprächspartner anonym bleiben. © David Reininghaus

Zwei Flaschen sind es anfangs. Er trinkt immer erst abends zuhause, niemals am Tag. Für viele geht sein Konsumverhalten locker als Feierabendbier durch. Nichts Ungewöhnliches. Doch für Weber ist es ein Einstieg mit fatalen Folgen. „Zwei Flaschen haben gereicht, da war ich angedaddelt“, spricht er darüber, was der Alkohol, der langsam Besitz von seinem Körper ergreift, macht.

Saufen in der Werkstatt

Irgendwann erhöht er sein Pensum. Zuhause richtet er sich eine Privatwerkstatt ein. Dort kann er unbehelligt trinken. Bis zu acht Flaschen sind es nun, die er fast täglich in sich reinschüttet. 38 Jahre alt ist er da. Schon auf dem Rückweg von der Arbeit in Münster nach Werne gibt es zwei bis drei „Wegbiere“.

Weber: „Dass es zuhause dann Ärger gab, war klar.“ Der Streit ist für ihn ein Vorwand, weiter zur Flasche zu greifen. Gegenüber den Kindern – ein Sohn und eine Tochter – rutscht ihm die Hand aus. „Ich war nicht gerecht zu ihnen“, bedauert er heute. Sie wenden sich vom Vater ab. „Der, der ich war, wollte ich nicht sein“, sagt Weber.

Der Körper verlangt mehr Alkohol

Zu dieser Zeit zeigt er „das typische Verhalten eines Alkoholikers“. Immer waren die anderen Schuld. „Ich habe zig Gründe zum Trinken gesucht. Aus Frust, um mich zu beruhigen, oder aus Wut habe ich getrunken.“ Was er jetzt weiß: „Es gibt keine Gründe zum Saufen.“ Sein Körper verlangt mehr und stellt sich auf seinen Konsum ein. Die Schwelle zur Sucht ist längst überschritten.

„Du trinkst zu viel“, sagt seine Frau zwar, aber sie weiß keinen Rat. Weber strebt nach Perfektion in Beruf und Privatleben, macht aber „Etliches falsch“. Seine Frau will ihm den Druck von den Schultern nehmen: „Was willst du denn mehr, es ist doch alles gut“, will sie beruhigen. Es hilft nicht.

Aggressionen und Schlafstörungen nehmen zu

Er besitzt ein Haus, ein Auto, auch Urlaube sind drin. Eigentlich ist alles gut. Langsam spürt er aber gesundheitliche Auswirkungen seiner Zecherei. Aggressionen, innere Nervosität und Schlafstörungen setzen ihm zu.

Am 8. Dezember 1991 zieht seine Frau die Notbremse. Vier Tage vor Webers 41. Geburtstag. Als er von der Arbeit kommt, findet er einen Zettel vor. Darauf stehen ein Vorname und eine Nummer. „Ist das die Nummer von einer Gruppe wegen meiner Trinkerei?“ „Ja.“ „Und?“, fragt er. Mit der Drohung „entweder du gehst dahin, oder das war‘s mit unserer Ehe“, setzt ihm seine Frau die Pistole auf die Brust.

Drohung der Frau ist ein Schock

Ein Schock für Weber. Er realisiert, dass er alles zu verlieren droht. Sein Haus, seine Familie, sein Leben. „Ich dachte, scheiße, jetzt hast du übertrieben.“ Die Flaschen, die er hat, macht er an diesem Abend noch leer. Es sollen die letzten sein.

Erst langsam zeigten die Gespräche in der Selbsthilfegruppe damals Wirkung bei Weber.

Erst langsam zeigten die Gespräche in der Selbsthilfegruppe damals Wirkung bei Weber. © David Reininghaus

Zum ersten Treffen geht er extra früh hin. Er will nicht neugierig gemustert werden, erzählt wenig von sich. „Mein Name ist Dieter, ich habe ein Alkoholproblem“, stellt er sich vor. Das Wort „Alkoholiker“ nimmt er nicht in den Mund.

Gespräche in der Selbsthilfegruppe wirken

Mit dem Gedanken, seine Ehe zu retten, schließt er sich der Gruppe an. Dem Alkohol endgültig abzuschwören, hat er da noch nicht wirklich im Sinn. „Ich dachte, vielleicht kannst du irgendwann wieder mit Alkohol umgehen.“ Erst langsam zeigen die Gespräche in der Gruppe Wirkung. Er erzählt von einem Teilnehmer, der sich vor den Spiegel gestellt hat und sagte: „Heute trinkst du keinen Alkohol.“

Weber nimmt das zunächst nicht ernst. Lacht darüber. Doch dann fängt er an, das Gleiche zu machen. Es funktioniert. Auf seiner Geburtstagsfeier, er wird 42, gibt es keinen Alkohol. Freunde und Bekannte sind eingeweiht. Sie wissen, dass er bei der Selbsthilfegruppe war.

Weber beginnt die Krankheit zu akzeptieren

Nach einigen Treffen stellt er sich erneut in der Gruppe vor: „Mein Name ist Dieter, ich bin Alkoholiker. Lasst mir heute den Raum, meine Geschichte zu erzählen.“ Erstmals akzeptiert er seine Krankheit, nimmt sie als solche wahr, nimmt sie ernst.

Keinen Tropfen hat er seitdem getrunken. Dieter fragt sich, warum ihn seine Frau nicht früher unter Druck gesetzt hat. „Dann hätte ich eher aufgehört.“ Aber Rosi unterstützt ihn. Jahrelang gibt es im Haus keinen Alkohol. Eines Tages fragt sie, ob es ihm etwas ausmache, wenn sie ein Glas Wein trinke. Er verneint.

“Ich werde alkoholkrank bleiben“

Wenn Leute neben ihm Alkohol trinken, ist das für ihn okay. „Wenn die Leute damit umgehen können, warum sollen sie unter mir leiden?“, fragt er rhetorisch. Besiegt ist die Krankheit aber nicht. „Ich werde alkoholkrank bleiben. Wer daran erkrankt, bei dem ist die Mengensicherung kaputt“, erklärt er.

Das heißt im Klartext: Wer einmal wieder anfängt, findet kein Ende. Aus zwei Flaschen können schnell wieder acht werden. „Man kann die Krankheit nur zum Stillstand bringen“, so Weber.

Rückfallgefahr bei „50:50“

Er berichtet von einem früheren Gruppenleiter, der 28 Jahre lang trocken war. „Dann wurde er rückfällig und hat sich totgesoffen.“ Besteht Gefahr, dass ihm das auch passiert? „Eine Garantie, dass mir das nicht passiert, gibt es nicht. Sie liegt bei 50:50“, sagt er offen. Das habe er auch seiner Frau gesagt.

Heute hilft er anderen Betroffenen, einen Weg aus der Krise zu finden. „Aber gehen müssen sie ihn alleine.“ Es klingt kurios, aber er freut sich, wenn Leute zur Gruppe kommen, „die scheiße drauf sind. Wenn ich sie sehe, schreckt mich das immer wieder ab.“

Heute berät Weber Betroffene und Angehörige

Wenn Frauen von Kursteilnehmern zu ihm kommen, rät er ihnen, das Gleiche mit ihren Männern zu machen wie seine Frau. Er soll sich entscheiden – zwischen dem Alkohol und der Frau. „Entweder er säuft sich kaputt, dann soll sie ihn verlassen, weil es die Frau und die ganze Familie zerstört, oder er lässt sich therapieren.“ Im ersten Fall seien dann wenigstens die anderen Menschen gerettet.

Manchmal hat Weber noch das Verlangen zu trinken. Wie er widerstehen kann? „Ich habe im Kopf eine geschlossene Flasche Bier, die geht auch nicht weg. Sie ist aber schon sehr verstaubt. Und ich werde den Teufel tun, den Staub wegzuwischen.“

*Name geändert

20.000 Alkohol-Tote jährlich
  • Laut Angaben der Bundesregierung konsumieren 9,5 Millionen Menschen in Deutschland Alkohol in gesundheitlich riskanter Form.
  • „Etwa 10.000 Kinder kommen jedes Jahr alkoholgeschädigt auf die Welt und etwa 2,65 Millionen Kinder haben mindestens einen alkoholkranken Elternteil“, nennt die Drogenbeauftragte Marlene Mortler bedenkliche Zahlen.
  • 20.000 Menschen sterben jährlich an den direkten und indirekten Folgen ihres Alkoholmissbrauchs.
  • Die Selbsthilfegruppe für Alkoholkranke und Angehörige trifft sich dienstags im Dietrich-Bonhoeffer-Zentrum, Ostring 66, Tel. (02389) 51128, 19.30–21.30 Uhr.