„Ich kann da nicht drübergehen. Ich kann da einfach nicht drauftreten. Das wäre nicht richtig“, sagt Maria Schnatmann (93) mit brüchiger Stimme, als sie mit ihrem Rollator den Roggenmarkt überquert und plötzlich stehen bleibt. Ihr Blick ist auf den Boden gerichtet, ihre Lippen beginnen zu zittern, die Augen werden glasig: „Ich muss oft daran denken. Ich erinnere mich noch gut an diese Nacht. Und auch an die Familie. Das waren so liebe Menschen.“
Im Boden vor Schnatmann - auf Höhe des Gebäudes, in dem sich heute das Parteibüro der SPD befindet - sind mehrere Stolpersteine verlegt. Sie erinnern an das Schicksal der jüdischen Bewohner der Lippestadt zur Zeit des Nationalsozialismus. Im Haus mit der Nummer 28 lebte und arbeitete einst die jüdische Familie Simons. Sie betrieb einen Viehhandel und eine Metzgerei. Und Maria Schnatmann lebte mit ihren Eltern und vier Geschwistern direkt im Haus nebenan. Dort, wo inzwischen Orthopädie Steinbrink zu finden ist.
„Wir hatten Angst und haben uns versteckt“
„Das sind natürlich nicht mehr dieselben Häuser wie damals. Die wurden schon vor vielen Jahren abgerissen. Aber ich kann Ihnen noch genau sagen, wie es früher aussah. Hier war der Eingang, dort drüber die Deele“, beginnt Schnatmann zu erzählen und zeigt in den Eingangsbereich des heutigen Orthopädie-Geschäfts.
Die 93-jährige hat all dies noch genau vor Augen. Das gilt auch für das, was sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 vor ihrem Haus in der Werner Altstadt abspielt: „Wir Kinder haben geschlafen, als es plötzlich einen fürchterlichen Lärm gab. Draußen auf der Straße schrien die Leute. Wir wussten nicht, was da passierte. Wir hatten Angst und haben uns versteckt. Ich weiß noch, dass Frau Simons zu uns hereingelaufen kam und zu meiner Mutter sagte: ‚Wenn wir weg sind, dann holt euch unsere Sachen, damit der Pöbel sie nicht nimmt.‘“

Denn in der Pogromnacht unternimmt ein Mob aus rund 100 Menschen - teils angestachelt von Mitgliedern der SS - eine regelrechte Hetzjagd auf die Werner Juden. In der Lippestadt leben zu diesem Zeitpunkt 40 Menschen jüdischen Glaubens. Der von Fanatismus und antisemitischer Propaganda geschürte Hass entlädt sich in jener Nacht in Form von brutaler Gewalt. Geschäfte und Häuser werden verwüstet, Menschen beleidigt, bespuckt und schwer misshandelt.
Auch die Familie Simons und ihr Geschäft am Roggenmarkt geraten ins Visier der Täter. Und beinahe auch Maria Schnatmann und ihre Familie: „Die wollten auch in unser Haus stürmen. Aber dann rief irgendjemand: ‚Halt! Das sind keine Juden!‘ Dann haben sie es gelassen“, sagt Schnatmann.
Der Mantel des Schweigens liegt über der Pogromnacht
Was sich zeitgleich in der unmittelbaren Nachbarschaft ereignete, hat die damals Neunjährige nicht mit eigenen Augen gesehen. Durch andere Zeitzeugenberichte lassen sich die Geschehnisse aber durchaus rekonstruieren. So kennen inzwischen viele Werner die Geschichte von Albert Heimann, dem damaligen Leiter der jüdischen Gemeinde, der in der Pogromnacht blutüberströmt mit der Thora-Rolle in der Hand vor seiner Familie steht und sie auffordert, sich im Garten zu verstecken. Der Familie gelingt später die Flucht in die USA.

Das weiß auch Maria Schnatmann. „Trotzdem fange ich heute noch an zu zittern und muss manchmal weinen, wenn mich etwas an diese Nacht erinnert“, sagt sie. Ein Grund dafür sei sicherlich, dass sich über diese Ereignisse lange der Mantel des Schweigens gelegt habe: „Schon am nächsten Tag wurde so getan, als sei nichts passiert. In der Schule wurde wieder der Hitler-Gruß gemacht und niemand hat sich getraut, darüber zu sprechen. Wir Kinder sowieso nicht. Wir wussten, dass das verboten war.“
Auch im Lokalteil der Werner Zeitung ist das Thema damals tabu. Lediglich eine kurze Notiz vom 18. November 1938 verweist auf die Ereignisse der Pogromnacht. Dort heißt es: „In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sind verschiedene Hüte, die sich bei dem Juden Gumpert zur Umarbeitung befanden, sichergestellt worden. Die Eigentümer sollen ihre Hüte bis Montag, den 21. November 1938, in der Zeit von 19.00 bis 19.30 Uhr, in der Geschäftsstelle der NSDAP abholen.“

Schnatmann sagt, sie habe erst viele Jahre später begriffen, welche Bedeutung die systematischen Aktionen gegen die Juden hatten. Warum jüdische Kinder damals anders behandelt wurden als sie selbst. Warum sie nicht am Sportunterricht teilnehmen durften und irgendwann niemand mehr in jüdischen Geschäften einkaufen ging. Man habe all dies als „normal“ empfunden. Erst recht, wenn man zu jener Zeit noch ein Kind war und es nicht anders kannte.
„Ich weiß aber noch, wie schockiert und traurig ich war, als die Familie Simons von einem Tag auf den anderen plötzlich nicht mehr da war. Keiner von ihnen“, sagt Schnatmann. Dann blickt die 93-Jährige wieder hinunter zu den Stolpersteinen vor dem Haus mit der Nummer 28. Die Namen von fünf Menschen sind dort verewigt. Außerdem sind die Konzentrationslager aufgeführt, in die die Familienmitglieder deportiert wurden. Keines von ihnen überlebte.
Vorsichtig schiebt Maria Schnatmann ihren Rollator an den Steinen vorbei - und wiederholt noch einmal die Worte, die nur jemand, der im November 1938 tatsächlich selbst dabei war, mit einer solchen Überzeugung sagen kann: „Nein, nein. Ich kann da einfach nicht drübergehen.“
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien erstmals am 9. November 2022 auf unserer Homepage.
- In Werne gelangen nur der Familie von Albert Heimann, der Familie Kaufmann sowie Leo Marcus und Heinrich Salomon die Flucht vor den Nationalsozialisten. Sie emigrierten nach England, Shanghai und in die USA. Anni Marcus kehrt 1945 als einzige KZ-Überlebende nach Werne zurück und starb vier Jahre später. Am Kriegsende zählten 27 Werner Juden zu den Opfern des Holocaust.
- Insgesamt wurden 11 Personen für ihre Gräueltaten in der Pogromnacht in Werne verurteilt. Die höchste Strafe erhielt Johannes Kretschmar mit zwei Jahren und sechs Monaten Haft. Kretschmar war damals 42 Jahre alt und Polizei-Hauptkommissar. Im Gerichtsurteil wurde er als „Rudelführer“ beschrieben, der die knapp 100-köpfige wütende Meute in der Bonenstraße angestachelt habe.
So erlebte die Jüdin Hannelore Adler (95) die Pogromnacht in Werne
Diese Werner Täter wurden verurteilt für ihre Taten in der Pogromnacht
Geschäfte zertrümmert und Menschen misshandelten - So lief die Pogromnacht in Werne