
© Montage Martin Klose
Geschäfte zertrümmert und Menschen misshandelten - So lief die Pogromnacht in Werne
Nationalsozialismus
Synagogen in Flammen, demolierte Geschäfte, misshandelte Bürger – in der Pogromnacht spielten sich erschreckende Szenen ab. Die Geschichten der Werner Juden zeigen das Ausmaß der Gewalt.
Als Leo Marcus in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 krank im Bett seiner Wohnung an der Bonenstraße liegt, donnern plötzlich Axtschläge gegen die verschlossene Schlafzimmertür. Mehrere Personen, darunter Mitglieder der SS, sind in das Haus eingedrungen und stehen kurz darauf direkt vor ihm. Sie tragen Gummiknüppel und Stöcke bei sich. Der in Werne geborene Marcus kennt einige der Gesichter. Aber der damals 39-Jährige ahnt nicht, welche Qualen sie ihm in wenigen Augenblicken bereiten werden.
Es ist der Beginn einer schrecklichen Tortur, eines regelrechten Spießrutenlaufs, den Marcus und die anderen jüdischen Bewohner der Lippestadt in dieser Nacht über sich ergehen lassen müssen. Innerhalb weniger Stunden entlädt sich in den Werner Straßen der von Fanatismus und antisemitischer Propaganda geschürte Hass in Form von brutaler Gewalt.
Ein Pöbelhaufen aus 100 Menschen
Und es sind keineswegs nur Mitglieder der SA und der SS unter der Führung des „alten Kämpfers“ P., die sich an den Gräueltaten beteiligen. Auch Werner Bürger machen mit. Der Pöbelhaufen derer, die in der Pogromnacht mit Spitzhacken und Vorschlaghämmer die Geschäfte und Häuser der Werner Juden zerstören, Menschen durch die Stadt hetzen, sie beleidigen, bespucken und misshandeln, wird zwischenzeitig auf gut 100 Personen wachsen. 20 davon gehören der SS an. Und einige von ihnen stehen in diesem Moment dort, am Bett von Leo Marcus – und beginnen, auf ihn einzuprügeln.

Hannelore Adler, geb. Heimann, Werner Jüdin © Archiv Förderverein Stadtmuseum
Das mag eine erste Befriedigung für die vom Rassenwahn angestachelten Peiniger sein. Aber sie gehen noch weiter. Marcus bekommt ihren ganzen Hass zu spüren. Sie zwingen den von Schlägen gezeichneten Mann barfuß und im Schlafanzug auf die mit Glasscherben übersäte Straße und treiben ihn zur Synagoge am Marktplatz. „Laufschritt marsch, marsch, du hast uns nachzusagen, was wir dir vorsagen: Ich bin ein Lump, ich bin ein Betrüger. Ich habe das deutsche Volk betrogen, ich bin ein Rassenschänder“, rufen die Männer in Uniform. Marcus läuft. Aber er schweigt.
Die Schläge werden härter, die Verletzungen schwerer. Auch in der Synagoge lassen die Nazis nicht von ihrem Opfer ab. Marcus soll schwören, dass er diesen Ort nie wieder betreten wird. Aber er weigert sich. Wenig später findet er sich auf dem Marktplatz wieder. Die SS-Leute zwingen ihn, zunächst einen Kopfstand zu machen, dann seine Hose auszuziehen und sich schließlich auf den Steinen herumzuwälzen. Sowohl die SS-Angehörigen als auch zivile Mitläufer treten währenddessen mit Stiefeln auf ihn ein. Marcus leidet. Genauso wie seine jüdischen Mitbürger. Darunter ist auch Louis Gumpert.

Der Jude Louis Gumpert stürzte in der Pogromnacht von einem Dach in eine Gasse zwischen den Häusern an der Bonenstraße – dort, wo sich heute ein Modehaus befindet. © Felix Püschner
Tatort Bonenstraße
Gumpert liegt schwer verletzt in einer Gasse an der Bonenstraße – direkt zwischen dem Gebäude mit der Nummer 14, in dem die Arztfamilie Hoevener lebt, und dem Haus des Rechtsanwalts Spaning. Das Tor zur Gasse, in der er völlig verängstigt kauert, ist versperrt. Davor hat sich eine Menschenmenge zusammengerottet. Auch hier tragen einige eine Uniform. Und sie versuchen mit aller Gewalt, das Tor zu öffnen, um zu Gumpert zu gelangen. Warum genau er dort liegt, ist unklar. Vielleicht war es ein gescheiterter verzweifelter Fluchtversuch, bei dem ihm der Weg über die Dächer als letzte Möglichkeit erschien, den Nazis zu entkommen. Vielleicht wurde er aber auch aus dem Fenster gestoßen. Fest steht jedenfalls: Er ist gestürzt – und unsanft auf dem Kopfsteinpflaster gelandet.
Als es den Nazis gelingt, sich Zugang zur Gasse zu verschaffen, droht ihnen Spaning damit, sie wegen Hausfriedensbruch zu verklagen, sollten sie sein Grundstück betreten und über den schwer verletzten Juden herfallen. Das schreckt die Menge ab. Es hindert sie aber nicht daran, Gumpert kurze Zeit später doch noch zu malträtieren. Als die von Spaning herbeigerufenen Rettungssanitäter ihren jüdischen Patienten aus der Gasse zum Krankenwagen tragen, schlagen mehrere Menschen aus der wartenden Menge auf den wehrlosen Mann ein. Gumpert wird ins Krankenhaus gebracht und versorgt. Der behandelnde Arzt begeht dadurch eine Straftat – zumindest nach der zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtslage.

Die Überreste der alten Synagoge am Werner Marktplatz im Jahr 1978. Heute gehört die Fläche zum Gastronomiebetrieb Fränzers. © Archiv Förderverein Stadtmuseum
Blutüberströmt mit der Thora-Rolle in der Hand
Albert Heimann steht mitten in der Nacht blutüberströmt vor seiner Familie im Haus an der Steinstraße 33. In der Hand hält er eine Thora-Rolle. Heimann, der die jüdische Gemeinde in Werne leitet, ist es gelungen, die Thora aus der Synagoge zu retten, bevor auch sie der Zerstörungswut der aufgebrachten Menge um die Leute in Uniform zum Opfer fällt. Zwischenzeitig versuchen Randalierer, das jüdische Gotteshaus sogar in Brand zu setzen – da die Gefahr des Übergreifens der Flammen auf benachbarte Häuser zu groß ist, lassen sie von ihrem Vorhaben ab.
Heimann fordert seine Familie auf, sich im Garten zu verstecken. Die Nazis, die kurz zuvor bereits das Haus an der Steinstraße aufgesucht und darin gewütet haben, könnten schließlich schon bald zurückkehren. Und ein weiterer Besuch hätte womöglich noch viel schlimmere Konsequenzen als umgeworfene Tische, zerstörte Möbel und verbrannte Familienfotos. Heimann selbst begibt sich daraufhin zunächst zu einer befreundeten Werner Familie, um seine Wunden behandeln zu lassen und sucht anschließend das Krankenhaus auf.

Das Haus der Familie Heimann an der Steinstraße 33. Hier stand Albert Heimann in der Pogromnacht blutüberströmt mit der Thora-Rolle in der Hand vor seiner Familie. © Archiv Förderverein Stadtmuseum
Eine vorgeschobene Vergeltungsaktion
Die entfesselte Wut der Täter richtet sich in dieser Nacht nicht nur gegen die Juden selbst, sondern zunächst gegen ihr Hab und Gut. Dem Propagandaministerium kommen die Ausschreitungen entgegen. Goebbels ordnet in einem Gespräch mit SA und SS an, dass die Gewaltaktionen nicht unterbrochen werden sollen. Das wird als indirekte Aufforderung verstanden, sich an den Übergriffen zu beteiligen.
Als Vorwand dient der Tod des Diplomaten Ernst Eduards vom Rath, der als Diplomat und Botschaftssekretär in Paris arbeitete. Am 7. November wurde er vom polnischen Juden Herschel Grynszpan angeschossen und erlag am 9. November seinen Verletzungen. Die Reaktion von aufgehetzten Bürgern sowie SS- und SA-Angehörigen ist erschreckend: Im gesamten Deutschen Reich werden binnen einer Woche mehr als 1400 Synagogen und Gebetshäuser sowie tausende Geschäfte zerstört und jüdische Friedhöfe geschändet.
Auch die Werner Synagoge wird schwer beschädigt – und schließlich wenige Jahre später aufgrund ihres schlechten Zustands abgerissen. In der Pogromnacht geraten zudem die Häuser und Geschäfte der jüdischen Familien ins Visier der Randalierer. Die Werner Juden sind unter anderem als Metzger, Viehhändler oder Hutmacher tätig. Die Schaufenster ihrer Läden gehen zu Bruch, die gesamte Einrichtung wird zertrümmert und die Waren landen auf der Straße. Die jüdischen Bewohner haben der Zerstörungswut und der Brutalität nichts entgegenzusetzen.

Ein Foto aus dem Jahr 1936 zeigt Hannelore Heimann und die Kinder der jüdischen Familie Lippmann inmitten ihrer Mitschülerinnen der Höheren Stadtschule. Zwei Jahre später müssen sie mit ansehen, wie Nazis und Mitläufer jüdische Geschäfte zerstören und jüdische Bürger misshandeln. © Archiv Förderverein Stadtmuseum
Zum Zuschauen verdammt
Und was ist mit denjenigen Bürgern, die sich nicht an diesen Aktionen beteiligen, die weder selbst als Schläger und Randalierer noch als applaudierendes Publikum in Erscheinung treten? Die sind mitunter schockiert, fühlen sich aber hilflos. Eine Bewohnerin, die das Unheil in den Werner Straßen von ihrem Fenster aus beobachtet, gibt später zu Protokoll: „Über all diese Ereignisse war ich tief betroffen. Mein Mann konnte dieses Vergehen ebenso wenig ertragen, doch aus Sorge bat er mich schließlich, das Fenster zu verlassen.“
Zu diesem Zeitpunkt hat sie nicht nur bereits das Leiden von Leo Marcus mit angesehen, sondern auch das Schicksal einer „Tante der Familie Salomon“. Die sei ebenfalls barfuß und im Nachthemd zur Synagoge getrieben und dort brutal zusammengeschlagen worden. Die Gewalt richtet sich in dieser Nacht eben nicht ausschließlich gegen materielle jüdische Besitztümer und gestandene jüdische Männer…
Die Angst vor dem KZ
Ein weiterer Zeitzeuge berichtet von dem Ausmaß der Zerstörung in der Metzgerei Simons am Roggenmarkt, mit von Hammerschlägen zertrümmerten Spiegeln und Marmortheken – und von der Flucht der Familie ins benachbarte Haus Forstmann. Am nächsten Morgen spricht er die Mutter Julia Simons auf die nächtlichen Geschehnisse an. Er habe versucht, sie zu beruhigen: „Sie brauche keine Angst zu haben. Keiner von uns wolle sie ins KZ bringen beziehungsweise sie und Frau Forstmann gefährden. Wir wussten ja, dass es so etwas gab.“
Julia Simons‘ Angst ist an diesem Tag berechtigt – und ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich. Sie wird später ins KZ Theresienstadt deportiert und 1942 im Vernichtungslager Treblinka als über 70-Jährige ermordet. Ihre Töchter Jenny und Rosa sowie Sohn Paul entkommen der Deportation ebenfalls nicht. Auch sie werden von den Nazis ermordet.
Leo Marcus verliert infolge der Verletzungen, die er in der Pogromnacht in Werne erlitt, ein Auge. Ihm gelingt jedoch die Flucht nach England. Neben Marcus können auch die Familie von Albert Heimann sowie die Familie Kaufmann und Heinrich Salomon rechtzeitig nach England, in die USA und nach Schanghai emigrieren. Leos Frau Anni Marcus kehrt 1945 als einzige KZ-Überlebende nach Werne zurück und stirbt vier Jahre später. Am Kriegsende zählen 27 Werner Juden zu den Opfern des Holocaust.

Insgesamt 40 Stolpersteine liegen in Werne an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet. Sie sollen an die ehemaligen jüdischen Bewohner der Lippestadt erinnern. © Felix Püschner
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien erstmals im November 2018 auf unserem Online-Portal.
Geboren 1984 in Dortmund, studierte Soziologie und Germanistik in Bochum und ist seit 2018 Redakteur bei Lensing Media.
