Clemens Overmann kramt aus seiner Aktentasche mehrere alte Dokumente und Zeitungsausschnitte hervor. Auf den ersten Blick behandeln all diese Schriftstücke das gleiche Thema: den Holocaust beziehungsweise die Verbrechen an den Werner Juden zur Zeit des Nationalsozialismus. Auf den zweiten Blick wird allerdings deutlich, dass es nicht bloß um Berichte geht, die rekonstruieren sollen, was beispielsweise in der Pogromnacht 1938 in der Lippestadt geschah.
Es geht vor allem darum, wie man in Werne nach dem Zweiten Weltkrieg mit diesem Thema umgegangen ist, um Schweigen und Verdrängung, sogar um Widerstände gegen die Aufarbeitung der Gräueltaten und den Umgang mit den Überlebenden. Overmann setzt sich seit Jahrzehnten für Aufklärungsarbeit und Gedenken ein. Dabei treiben ihn auch ganz persönliche Gründe an. Denn er war befreundet mit Heinrich Salomon, einem der wenigen Werner Juden, die den Holocaust überlebten.
Die Familie Salomon war einst tief in der Lippestadt verwurzelt. Der Stammbaum lässt sich bis ins 18. Jahrhundert rekonstruieren. Hier wurde Heinrich 1908 geboren, hier wuchs er auf, hier war seine geliebte Heimat - und hier erlebte er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Einführung der Rassengesetze Ausgrenzung und Anfeindungen, Hass, Hetze und Gewalt.
Heinz Salomon lebte später in den USA
Ein trauriger Höhepunkt: die schockierenden Ereignisse in der Pogromnacht, in deren Folge sich Heinrich Salomon aus Verzweiflung selbst die Pulsadern aufschnitt und nur dank des Einsatzes von Dr. Hövener überlebte. 1939 entkam Salomon - wie er später in einem Brief schrieb - mit großem Glück der „Hölle“. Der damalige Chef der Gestapo hatte ein englisches Schreiben als Ausreisegenehmigung für Salomon interpretiert. Tatsächlich stand genau das Gegenteil darin.
Salomon gelangte über Belgien nach England, kämpfte dann gegen sein Vaterland und emigrierte schließlich in die USA. Dennoch kehrte er nach dem Krieg etliche Male nach Werne zurück, übernachtete dort bei seinem Freund Franz Baumhove und lernte in dieser Zeit auch Clemens Overmann kennen.

„Das muss man sich mal vorstellen: Da muss jemand mit 31 Jahren ‚im Namen des Volkes‘ seine Heimat verlassen, um zu überleben. Und obwohl er danach 15 bis 20 mal wieder zu Besuch kommt, wird ihm nie von der Stadt Werne die Hand zur Versöhnung gereicht“, sagt Overmann und schüttelt den Kopf: „Dabei hat Heinz immer gesagt, dass er zwar nicht vergessen kann, aber durchaus vergeben hat. Er hat seine Hand also ausgestreckt.“
Overmann steht bei Heinrich Salomon im Wort, wie er sagt. Er müsse dafür sorgen, dass die Taten von damals nicht in Vergessenheit geraten - und vor allem dafür, dass sie wahrheitsgemäß wiedergegeben werden. Manche Schilderungen hätten sich über die Jahre nämlich bei den Werner Bürgern verfestigt, obwohl sie falsch seien. So habe es beispielsweise durchaus auch im kleinen Werne einige Nazi-Größen und überzeugte Nationalsozialisten gegeben: „Die kamen nicht nur von außerhalb.“

Das könnte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass sein Engagement in den 1980er-Jahren mehrfach auf Ablehnung stieß und der Umgang mit Salomon so unverschämt und traurig war, sagt Overmann: „Da gab es viel Gleichgültigkeit. Aufklärung war nicht gewünscht. Das lag wohl auch daran, dass Heinz zu viel wusste. Da hatten einige Leute wahrscheinlich Angst.“
Es ist das Jahr 1984, als die Grünen in Werne auf Overmanns Initiative einen Antrag zur Ausrichtung einer Gedenkstunde zur Pogromnacht am einstigen Standort der Synagoge stellen. Der Antrag wird mit knapper Mehrheit angenommen. Abgelehnt wird hingegen der Antrag, eine Gedenktafel am Rathaus anzubringen. Overmann entschließt sich daraufhin, eine solche Tafel an seinem eigenen Haus am Markt zu installieren.
Mehrere Anträge Overmanns scheiterten
„Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“, ist darauf zu lesen. Weiter heißt es: „Auf diesem Platz misshandelten Werner Bürger und Nazis in der ‚Reichskristallnacht‘ - 9./10. Nov. 1938 - jüdische Werner Bürger. Bis 1945 wurden mehr als 30 jüdische Mitbürger deportiert und kehrten nicht wieder.“ Unterzeichnet ist der Text mit „Werner Bürger im November 1988“.
Nicht jedem Betrachter gefällt diese Tafel damals. Applaus bekommt Overmann für die Aktion nicht. Dennoch - oder gerade deswegen - stellt er weitere Anträge. So fordert er unter anderem, Straßen in Werne nach den jüdischen Werner Opfern zu benennen. Ohne Erfolg. Zudem fordert Overmann, Heinrich Salomon und die Mitglieder der Familie Heimann zur Pogrom-Gedenkveranstaltung 1988 einzuladen. Auch das funktioniert nicht. Einen offiziellen Empfang durch den damaligen Bürgermeister Willi Lülf und Stadtdirektor Heinz Austermann gibt es erst ein Jahr später.

An den Bürgermeister wendet sich Overmann 1989 mit dem Wunsch, Heinrich Salomon als Zeichen der Versöhnung zum Ehrenbürger zu ernennen. Im dem Schreiben weist Overmann darauf hin, dass eine Strafverfolgung der für die Deportationen der Werner Juden verantwortlichen Personen trotz Strafantrags nie erfolgt sei. Jahrzehntelang habe die Stadt Werne sich nicht bemüht, eine Versöhnung anzustreben - und das, obwohl Salomon seine Heimat immer wieder in Freundschaft besucht habe.
Eine mögliche Ehrenbürgerschaft Salomons sieht die Politik allerdings skeptisch - vor allem die großen Parteien. Man könne eine solche Ehrenbürgerschaft laut Gemeindeordnung nur an Personen vergeben, die sich um die Stadt „besonders verdient“ gemacht haben, heißt es. Und diese Bedingung sieht die Politik im Falle von Salomon nicht wirklich erfüllt. Man wolle jedoch andere Möglichkeiten prüfen, Salomon zu ehren.
Nazi-Symbole an Häusern und Stromkästen
Von den Reaktionen auf seine Anträge ist Overmann schon damals tief enttäuscht. Auch, weil man hiermit zumindest ein wenig Anstand und guten Willen hätte zeigen können. Zumal die Holocaust-Thematik zu diesem Zeitpunkt durch eine andere Angelegenheit in der Lippestadt eine besondere Brisanz erfährt. Bereits im Jahr 1986 macht Overmann nämlich im Partnerschaftsausschuss darauf aufmerksam, dass an mehreren Stellen im Stadtgebiet Nazi-Parolen und Hakenkreuze an Hauswänden, Stromkästen und Brückenpfeilern zu sehen sind.
Ein Jahr später sind diese immer noch nicht von der Verwaltung entfernt worden. Daraufhin stellt Overmann Strafantrag gegen die Verwaltung beziehungsweise gegen den Stadtdirektor wegen Verherrlichung des Rechtsradikalismus. Ebenfalls ohne Erfolg. Das Verfahren wird nach einiger Zeit eingestellt.

All das ist nun mehr als 30 Jahre her. Heute erkennt Overmann eine deutliche Verbesserung im Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus. Vor der Gedenktafel an seinem Haus bleiben inzwischen Menschen bei Stadtführungen stehen. Dass die Stadt vor einigen Jahren die Sekundarschule nach Marga Spiegel benannt hat, war für Overmann ein „absolutes Highlight“. Und auch dass Wernes amtierender Bürgermeister im Jahr 2010 posthum eine Ehrenmedaille an Johanna und Bernhard Sickmann verlieh, freut ihn. Die Milchbauern Sickmann hatten die Familie Spiegel vor den Nazi-Verfolgern beschützt.
So wie Marga Spiegel überlebte auch Heinrich Salomon den Holocaust. Er starb 1992. Ohne dass die Verbrechen gegen ihn und seine Familie aufgeklärt wurden. „Er hatte immer ein Bild seiner Schwester im Portemonnaie, die in der Pogromnacht vergewaltigt und später deportiert und ermordet wurde“, sagt Overmann.
Die Namen der Familie Salomon liest man in Werne heute noch auf einigen Stolpersteinen. Eine Straße ist nicht nach ihnen benannt worden. Wenn es nach Overmann geht, könnte sich das bald ändern: „Vielleicht werde ich einen neuen Anlauf nehmen und den Antrag erneut stellen.“ Geschrieben hat er ihn ja schon. Er müsste bloß das Datum ändern.
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