Zweirad-Mechatroniker Aboud Diyar Bakerli (l.) und Firmenchef Thomas Schmicking: Seit 20 Jahren wird am Standort an der Vincenz-Wiederholt-Straße auf die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern eingegangen. Schmicking ist nach eigenen Angaben der einzige Rehatechnik-Hersteller, der komplett in Deutschland produziert.

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Annika Zeyen: Auf einem Schmicking-Handbike zu Gold und Silber

rnErfolge bei Paralympics

Eine Gold- und eine Silbermedaille holte die Bonnerin Annika Zeyen kürzlich in Tokio im Para-Radsport auf ihrem Handbike. Das wurde eigens für sie gefertigt – am Ortsrand von Holzwickede.

Holzwickede

, 10.09.2021, 17:10 Uhr / Lesedauer: 3 min

Ob beim Radsport mit oder ohne körperliche Einschränkung: Athleten müssen sich auf ihre körperliche Leistungsfähigkeit und auf ihr Material verlassen. Annika Zeyen konnte das während der Paralympics in Tokio: Eine Goldmedaille im Zeitfahren und die Silbermedaille im Straßenrennen holte sie mit ihrem Schmicking-Handbike – speziell für sie gefertigt.

„Weil Schmicking einfach gute Bikes baut, mit denen man erfolgreich sein kann“, sagt die 36-jährige Athleten, warum sie dem mittelständischen Unternehmen ihr Vertrauen schenkt. Unter den Para-Radsportlern war sie als einzige mit einem „Schmicking“ unterwegs. Und während in Tokio mancher Athlet bei teils schwierigen Wetterbedingungen im Regen mit dem Material haderte, lief es bei Zeyen wie geschmiert.

Daran wiederum hat Aboud Diyar Bakerli seinen Anteil: Kurz vor der Reise nach Tokio war Annika Zeyen in Holzwickede zu Besuch, wünschte sich noch ein leichteres Laufrad für die Front. Der 34-jährige Syrer wiederum war dafür zuständig, zwei Handbikes für Tokio im Service auf alle Komponenten zu prüfen und einzustellen.

Besondere Verantwortung für Paralympics-Handbikes

2014 nach Deutschland gekommen, hat er 2017 eine Ausbildung bei der „Schmicking Reha Technik GmbH“ begonnen, zu Jahresbeginn abgeschlossen und wurde im Anschluss als Zweirad-Mechatroniker übernommen. Die Arbeit am späteren Medaillen-Bike sowie dem Ersatzgefährt war auch für ihn besonders: „Das war eine große Verantwortung. Da arbeitet man natürlich ganz genau, um sicher zu gehen, dass alles picobello ist.“

Annika Zeyen holte in Tokio eine Gold- und eine Silbermedaille im Para-Radsport auf einem Schmicking-Handbike.

Annika Zeyen holte in Tokio eine Gold- und eine Silbermedaille im Para-Radsport auf einem Schmicking-Handbike. © picture alliance/dpa

Ein Handbike greift auf viele Komponenten zurück, die auch im Radsport zum Einsatz kommen: Elektronische Schaltung, Scheibenbremsen, federleichte Laufräder aus Carbon – nur die Anordnung bei den dreirädrigen Sportgeräten ist anders als etwa beim Rennrad für die Tour de France. „Das Hinterrad ist vorne, die Schaltung oben, der Umwerfer umgedreht montiert“, sagt Firmenchef Thomas Schmicking.

Dazu kommt eine gänzlich andere Position für die Fahrer: „Sitz- bzw. Liegeposition sind existenziell für die Kraftübersetzung und Aerodynamik“, sagt der Rollstuhl-Experte. Was den Widerstand im Wind betrifft, ist ein Handbike gegenüber einem handelsüblichen Rennrad im Vorteil: „Meine Höchstgeschwindigkeit lag bergab mal bei 90 km/h. Dann war einfach Schluss, weil man im Wind sitzt. Ein Freund von mir kam liegend auf 104 km/h“, gibt Schmicking ein Beispiel für die physikalischen Grenzbereiche.

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32 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit mit der Kraft aus dem Oberkörper

Solche Geschwindigkeiten waren in Tokio auf dem „Fuji Speedway“ für Annika Zeyen nicht entscheidend. Um im Zeitfahren über 16 Kilometer aber einen Schnitt von 32 km/h allein mit der Kraft aus Armen und Oberkörper zu generieren, braucht es neben der Technik auch viel Training. „Da steckt unheimlich viel von dahinter. Klassisch auf Ausdauer, aber ich bin auch dreimal die Woche beim Krafttraining, mache Crossfit“, sagt die Sportlerin, die erst vor zwei Jahren zum Para-Radsport kam. Zuvor holte sie in der Vergangenheit bereits Paralympics-Medaillen mit dem deutschen Rollstuhl-Basketballteam.

Saubere Schweißnähte: Wer schweißt, entwickelt eine eigene „Handschrift“. Thomas Schmicking etwa erkennt an der Naht, welcher Mitarbeiter am Rahmen am Werk war.

Saubere Schweißnähte: Wer schweißt, entwickelt eine eigene „Handschrift“. Thomas Schmicking etwa erkennt an der Naht, welcher Mitarbeiter am Rahmen am Werk war. © Greis

„Ein Freund von mir kam liegend auf 104 km/h.“
Thomas Schmicking

In einem Basketball-Rollstuhl steckt zwar viel weniger Technik, aber wer bei Schmicking zu Besuch ist, bekommt eine Ahnung davon, wie breit die Anwendungsgebiete für Menschen heutzutage sind, die auf Rollen zur Fortbewegung angewiesen sind: Vom ultraleichten Alltags- über den massiven Rugby-Rollstuhl, der fast an römische Streitwagen erinnert, bis zum E-Motor betriebenen und vollgefederten Handbike für den harten Einsatz im Gelände – in Holzwickede wird für jeden Bedarf und individuellen Anspruch produziert.

Echte Handarbeit bis zum fertigen Produkt

Da es im Gegensatz zur Fahrradindustrie aber kaum Sinn ergibt, etwa große Serien in Asien produzieren zu lassen, werden Schmicking-Rollstühle nahezu komplett in Handarbeit in Holzwickede gefertigt. Vor allem bei den Rahmen ist das durchaus beeindruckend: So werden für ein Renn-Handbike etwa einen Millimeter dünne Alu-Rohre verwendet, die ähnlich leicht wie Carbon sind. Annika Zeyens Bike wiegt mit knapp zehn Kilo nicht so viel mehr als die Carbon-Renner von Radprofis ohne Handicap – die aber auch nur zwei statt drei Laufräder haben.

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Vom Rohmaterial bis zum fertig geschweißten Rahmen: Das alles passiert in den Hallen an der Schäferkampstraße. Gleiches gilt für Entwicklung und Montage. 43 Männer und Frauen – mit und ohne Handicap, mit und ohne Migrationshintergrund – beschäftigt Thomas Schmicking. Er und sein Team scheinen dabei großen Gefallen daran zu haben, das passend zu machen, was nicht passt.

Aboud Diyar Bakerli am Arbeitsplatz: Im Montageraum lagern zahllose Komponenten von Naben über Laufräder bis zum Kettenblatt. Trapezförmige Tische erleichtern die Arbeit an den ähnlich geformten Hand- oder Kniebikes.

Aboud Diyar Bakerli am Arbeitsplatz: Im Montageraum lagern zahllose Komponenten von Naben über Laufräder bis zum Kettenblatt. Trapezförmige Tische erleichtern die Arbeit an den ähnlich geformten Hand- oder Kniebikes. © Greis

Denn auch wenn bei Schaltungen oder Bremsen natürlich bekannte Marken verbaut werden: Oftmals muss eben Technik vom Fahrrad auf Rollstühle angepasst werden. Dass Komponenten zunächst nicht immer perfekt ins Gesamtgefüge passen wollen, liegt in der Natur der Sache. „Was es nicht gibt, stellen wir dann eben CNC-gefräßt selber her“, sagt Thomas Schmicking. Ob patentierte Rollstuhl-Rolle oder angepasste Handschaltungen – tüfteln gehört zum Geschäft.

„Ich hole mir gerne verschiedene Meinungen zu Material und Ausstattung ein und die diskutiere ich dann auch gerne mit Thomas Schmicking. Er hat einfach unheimlich viel Wissen und da vertraue ich auch drauf“, sagt wiederum Annika Zeyen.

Und ob Paralympics-Siegerin oder Rolli-Fahrer von nebenan: „Dieser menschliche Aspekt, dass wir jemanden glücklich nach Hause schicken können, das macht uns Freude. Wer einmal bei uns war, der kommt auch wieder“, sagt Aboud Diyar Bakerli.

In einer vorigen Version dieses Artikels war die Firma Schmicking an der Vincenz-Wiederholt-Straße verortet. Das Unternehmen hat seinen Standort aber an der Schäferkampstraße. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.