Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist im März 2024 erschienen. Wir haben ihn nun erneut veröffentlicht.
Das Herz lacht. Hans Werner Diel lacht auch, als er es in die Hand nimmt und losgeht. Wer den großen schlanken Mann in Jeans, T-Shirt und Laufschuhen an diesem Vormittag in Werne genau beobachtet, sieht allerdings, wie sich seine Mimik auf dem kurzen Fußweg zwischen dem Parkplatz an der Straße Wiehagen und der Hecke schräg gegenüber gleich mehrfach verändert. Die Augen, die gerade noch schelmisch blitzten, werden plötzlich groß und starr, um sich einen Augenblick später wieder entschlossen zu verengen. Als Diel angekommen ist vor der grünen Blätterwand, und das rote Dekorherz mit dem lachenden Gesicht an einem der Zweige befestigt, strahlt auch er wieder. Denn gerade hat er es überwunden: das Grauen der Erinnerung.
Sieben Jahre ist es her, dass sich der Mann aus Waltrop genau an der gleichen Stelle befand. Nur, dass er damals, an diesem warmen 11. Juni 2016, dort nicht stand, sondern lag. Dabei wollte er eigentlich nur schnell vorbeilaufen. Hans-Werner Diel, der schon Marathon- und 100-Kilometer-Läufe absolviert hatte, war Teilnehmer des 16. Werner Stadtlaufs auf der 10-Kilometer Distanz. Am Ziel kam er nie an.
„Ich weiß noch, dass ich auf die Hecke zusteuerte, um etwas weicher zu fallen“, sagt er. Dass er nicht selbst den Sturz würde abfedern können, war ihm klar. Denn diesen plötzlichen, brennenden Schmerz in der Brust, der ihm plötzlich die Luft nahm, kannte er. Fünf Jahre zuvor hatte er schon einmal einen Herzinfarkt. Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie schlecht seine Überlebenschancen bei einem zweiten Infarkt sein dürften, blieb ihm nicht mehr. Da rutschte er schon bewusstlos die Hecke hinab.
Der Beat von Biene Maja
Diels Herz hatte aufgehört zu schlagen. Statt weiter im Takt der Schritte sauerstoffreiches Blut über die Hauptschlagader in die Arterien und weiter in die winzigen Kapillaren zu pumpen, ist es stehengeblieben. Mitten im Lauf. Nichts ließ mehr das sauerstoffarme Blut durch die Venen zurück zum Herzen fließen, damit es wieder mit dem lebensnotwendigen Element angereichert wird. Der Herz-Kreislauf stand still. Diel lag regungslos dort. Sein Blutdruck war auf Null gesunken. Keine Atmung mehr.
Das Gehirn beginnt bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand bereits nach drei bis fünf Minuten ohne Blutfluss „unwiederbringlich zu sterben“, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) mitteilt. Genau das sei das wichtige Zeitfenster, in dem auch medizinische Laien zu Lebensrettern werden können. Nach aktuellen Zahlen des Deutschen Reanimationsregisters erleiden in Deutschland mindestens 60.000 Menschen pro Jahr wie Hans Werner Diel einen Herz-Kreislauf-Stillstand außerhalb eines Krankenhauses. Bei mehr als 50.000 von ihnen hatte der Tod das letzte Wort. Bei Hans-Werner Diel waren es die Bee Gees. Oder die Biene Maja.
„Ah, ha, ha, ha, stayin‘ alive, stayin‘ alive.“ Das ist der Takt des Herzens. Genauso wie: „Und diese Biene, die ich meine, die heißt Maja.“ Welches Lied sich die Ersthelfer für die Herzdrucksmassage gewählt hatten, weiß Diel nicht. Ist auch egal. Das einzige, was in so einer Situation zählt, ist, dass es überhaupt einen Menschen gab, der sich traute, die beiden Hände übereinander auf die Mitte des Brustkorbs zu legen und dann schnell (100 bis 120 Mal pro Minute) und tief (5 bis 6 Zentimeter) in Richtung Wirbelsäule zu drücken. Eine schweißtreibende Arbeit, aber die einzige Möglichkeit, einen künstlichen Blutfluss zum Gehirn aufrechtzuerhalten. Bei Hans Werner Diel waren es gleich fünf Menschen, die sich abwechselten. Er selbst hat es gesehen.
„Ich sah mich unten liegen“
Eigentlich will er gar nicht darüber sprechen. Der 75-Jährige steht vor der schicksalhaften Hecke und streicht sich mit einer schnellen Geste durch das weiße Haar. Er hadert mit sich. Der Mann, der bis zu seinem Ruhestand Wirtschaftsförderer der Stadt Castrop-Rauxel war, versteht sich auf Zahlen und Fakten. Was er nach seinem Herzstillstand erlebt hat, passt nicht dazu. „Völlig verrückt“, nennt er es selbst. Doch die Bilder von damals lassen sich nicht verscheuchen. Er gibt sich einen Ruck und erzählt. „Ich sah mich selbst da unten auf der Erde liegen.“
Zehn Minuten lang lag er da, wie er später erfahren wird. Er selbst hat kein Gefühl mehr für Zeit, seitdem er durch einen sich drehenden Tunnel gefallen war, wie er es beschreibt. „Ich sah ein gleißendes Licht.“ Die gerade noch entsetzlich starken Schmerzen waren „tiefer Ruhe“ gewichen. „Ich will nicht sagen, dass ich mich wohlgefühlt habe, aber irgendwie eingebettet.“ Für einen endgültigen Abschied von seinem Körper, den er von außen betrachtete, war es jedoch zu früh. Hans-Werner Diels Herz begann wieder zu schlagen.
Als der Rettungswagen noch unterwegs war, hatten ihn seine fünf Werner Lebensretter schon zurückgeholt - auch dank ihrer professionellen Ausbildung: drei Feuerwehrleute, ein Arzt und eine Krankenschwester. „Dass die alle gerade hier zur Stelle waren, ist ein schier unwahrscheinliches Glück.“ Zumal auch noch ein elektrischer Defibrillator ganz in der Nähe war.

Während die vier anderen sich abwechselten bei der Herzdruckmassage, holte der fünfte den AED (Automatisierte Externe Defibrillator): eines dieser Geräte, von denen es laut bundesweitem Defikataster in Werne mindestens 18 gibt, unter anderem in der Polizeiwache, im Freiherr-vom-Stein-Kolleg, bei manchen Sportstätten und bei großen Unternehmen. Um sie anzuwenden, braucht es keiner medizinischen Ausbildung: Das Gerät gibt die lebensrettenden Anweisungen und setzt bei Bedarf einen Stromstoß ab.
Hand Werner Diel war nicht mehr tot, als sein Herz wieder schlug. Der Lauf zurück ins Leben war aber noch lange nicht gewonnen. Dass er überhaupt glückte, führt Diel auf seine gute Kondition als Sportler zurück. Vom Alter spricht er selbst nicht. Fakt ist aber, dass es durchaus Einfluss hat auf den Erfolg einer Reanimation und den anschließenden Genesungschancen. Ohne gravierende neurologische Schäden davon zu kommen, ist laut der Studie von Bostoner Notfall-Medizinern aus dem Jahr 2015 noch14,8 Prozent der jüngsten Patienten vergönnt, aber nur 1,2 Prozent der ältesten. Ab 60 Jahre würden die Überlebenschancen linear abnehmen. Diel war bei seinem Herzstillstand 68 Jahre alt.
1,84 Meter groß, weniger als 70 Kilogramm schwer, kein Alkohol, kein Nikotin und kein Problem mit erhöhten Cholesterinwerten oder Diabetes: „Ich war kein typischer Kandidat für einen Herzinfarkt“, sagt Diel. Bei den regelmäßigen kardiologischen Kontrolluntersuchungen, denen sich der Ausdauersportler vor Marathon- und Ultraläufen unterzogen hatte, war nie eine Auffälligkeit festgestellt worden. Nur eines war ungewöhnlich: ein offensichtlich genetisch bedingter erhöhter Lipoproteinwert im Blut. Lipoprotein? Diel wendet sich mitten im Gespräch von der Hecke ab, geht zügigen Schrittes zurück zu seinem Auto und kommt sofort wieder: mit einem pinkfarben eingebundenen Buch in der Hand. „Lipoprotein (a). Der größte Risikofaktor für Herzinfarkt und Schlaganfall?“ lautet der Titel. Autor: eine Ärztin namens Dr. Jila Maki und er selbst: Hans W. Diel.
Selbst aktiv werden
Egal, ob es darum geht, fremdes Leben zu retten oder das eigene: Sich allein darauf zu verlassen, dass Fachleute schon rechtzeitig zur Stelle sein werden, genügt nicht, meint Diel. „Ich habe mich mit meinem Körper beschäftigt“, sagt er. Dadurch sei es ihm gelungen, nicht nur irgendwie zu überleben, sondern seine Gesundheit „erheblich zu verbessern“. Ihm sei das auch durch eine Nahrungsumstellung gelungen: Erfahrungen, die er gern mit anderen Patientinnen und Patienten teilen möchte. Seine Grenzen sind ihm dabei durchaus bewusst: „Das geht alles nur mit ärztlichem Beistand.“
Noch einmal greift Hans-Werner Diel nach dem lachenden roten Herz in der Hecke und rückt es zurecht. Dann geht er. Passanten werden später den roten Anhänger für den Gruß von Liebenden halten. Stimmt auch. Niemand liebt sein Leben wie einer, der es schon einmal verloren hat.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 2. Oktober 2023.

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