Wenn am Heiligenabend alle fünf Glocken der St. Vituskirche zur Messe rufen, liegt viel Arbeit hinter Christina Hayk. Für die 63-Jährige ist es das letzte Weihnachten als Küsterin.

Südlohn

, 24.12.2019, 17:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

119 Stufen liegen zwischen der Eingangstür in die St. Vituskirche und der obersten Etage im Glockenturm. 119 Stufen, die Küsterin Christina Hayk (63) in den vergangenen 20 Jahren zigmal rauf- und runtergestiegen ist. Wie oft genau hat sie nie gezählt. „Ich schätze, dass ich dreimal im Jahr bis ganz nach oben komme, um hier nach dem Rechten zu sehen“, sagt sie an diesem Morgen im Advent, als sie ganz oben zwischen den Glocken steht.

Einige Minuten zuvor: Neben dem Hauptportal führt die Treppe nach oben. Vorbei an der Orgelbühne geht es auf die erste Etage des Turms. „Als nach dem Zweiten Weltkrieg Südlohn in Trümmern lag, war hier oben die Schule untergebracht“, sagt sie lächelnd. Heute kaum noch vorstellbar.

Küsterin kennt „ihre“ Kirche bis in den letzten Winkel

Es macht ihr sichtlich Spaß, „ihre“ Kirche zu präsentieren. „Als ich hier angefangen habe“, sagt die 63-Jährige, „bin ich erst einmal durch alle Ecken gekrochen und hab mir jeden Raum genau angesehen.“ Als Küsterin muss sie schließlich wissen, wie es auch im letzten Winkel der Kirche aussieht. Und Ecken gibt es eine Menge: Zum Beispiel die hölzernen Laufgänge über dem Gewölbe im Kirchenschiff. Bis ganz nach vorne über den Chorraum führen die.

Christina Hayk (63), Küsterin in der St.-Vituskirche ganz oben im Glockenstuhl. Rund drei Mal im Jahr kommt sie dort her, um nach dem Rechten zu sehen.

Christina Hayk (63), Küsterin in der St.-Vituskirche ganz oben im Glockenstuhl. Rund drei Mal im Jahr kommt sie dort her, um nach dem Rechten zu sehen. © Stephan Teine

Immer mal wieder führt sie Gruppen hierher. Kommunionkinder, Frauen der KFD, Mitglieder vom Heimatverein, Seniorengruppen. „Das ist immer ein Riesenerlebnis für die“, sagt sie.

Uhrwerk aus dem Jahr 1936

Einige Treppenstufen unter dem Glockenstuhl steht das Uhrwerk der St. Vituskirche. Es ist noch das Original aus dem Jahr 1936. Damals wurde der Turm der Kirche komplett neu gebaut – samt neuer Uhr. Über lange Stangen und schwer Zahnräder wird die Bewegung erst nach oben und dann an die vier Zifferblätter am Turm übertragen. Alles noch rein mechanisch.

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Fünf Glocken rufen in Südlohn zur Christmesse

Der Turm der St. Vituskirche wurde 1936 gebaut. Küsterin Christina Hayk (63) ist die 119 Stufen bis zur Spitze ungezählte Male hochgestiegen. Sie kennt die Südlohner Kirche wie ihre Westentasche – und freut sich, die vielen Geschichten des Gebäudes zu erzählen.
23.12.2019

„Wegen des alten Uhrwerks können wir auch nicht viele Glockenschläge programmieren“, sagt Christina Hayk. Was bei modernen Uhrwerken gar kein Problem ist, stellt die alte Technik vor einige Herausforderungen. „Alles, was außerhalb der normalen Stundenschläge oder der üblichen Messen liegt, müssen wir per Hand auslösen“, sagt die Küsterin.

Und da gibt es einige feste Regeln. Die Totenglocke beispielsweise ist die erste, große Glocke. An Werktagen werden die zweite, dritte und vierte Glocke geläutet. Zu Wortgottesdiensten rufen Glocke 3, 4, und 5.

Und an Heiligabend, wie auch bei den anderen Hochfest im Kirchenjahr werden alle fünf Glocken gleichzeitig zum Gottesdienst rufen.

Glocke von 1390 läutet heute noch vom Kirchturm

Die Kirchengemeinde St. Vitus hört dabei regelmäßig eine echte Kostbarkeit klingen: Die Katharinenglocke stammt noch aus dem Jahr 1390 und wird immer noch geläutet. „Als im Ersten Weltkrieg die Glocken für Munition eingeschmolzen wurden, hat sich der Südlohner Pfarrer gewehrt“, erzählt Christina Hayk. Zumindest diese Glocke blieb auf dem Turm.

Die anderen Glocken wurden in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzt. Zwei kamen 1949 wieder in den Glockenstuhl, eine 1952. Die letzte und größte Glocke wurde erst 1996 in den Turm gezogen. Dafür mussten sogar Betonträger unter dem Glockenstuhl ein Stück weit abgeschlagen werden. „Die Glocke war zu einfach zu groß“, sagt Christina Hayk und deutet auf die Kerben im Stahlbeton.

Glockenklöppel wurden in den 1980er-Jahren gestohlen

Vom Uhrwerk führt eine steile, schmale und etwas wackelige Holztreppe bis zu den Glocken hinauf. Über diese Treppe haben Unbekannte Ende der 1980er-Jahre die Klöppel aller fünf Glocken gestohlen. „Die waren morgens einfach plötzlich weg“, erzählt Christina Hayk.

Wer die Täter waren oder wie sie das damals angestellt haben, ist bis heute nicht überliefert. „Unser Pfarrer Winkelhues wusste, wer es gewesen ist“, sagt Christina Hayk mit einem verschwörerischen Unterton in der Stimme, „aber dieses Wissen hat er mit ins Grab genommen.“ Die bis zu 80 Kilogramm schweren Klöppel tauchten jedenfalls wieder auf und wurden wieder montiert.

Viele Geschichten warten hinter jeder Ecke in der Kirche

Es sind Geschichten wie diese, die sich überall in der St. Vituskirche verstecken und die für Christina Hayk den besonderen Reiz des Gebäudes ausmachen. „Viele sehen im Alltag die Schönheiten unserer Kirche ja gar nicht mehr“, sagt sie. Dabei hätten sogar Historiker und Architekten bestätigt, dass St. Vitus eine ganz besondere Kirche sei.

Das Uhrwerk der St.-Vituskirche aus dem Jahr 1936. Wegen der alten Technik sind komplizierte Programmierungen nicht möglich. Zu Hochfesten muss das Geläut per Hand eingeschaltet werden.

Das Uhrwerk der St.-Vituskirche aus dem Jahr 1936. Wegen der alten Technik sind komplizierte Programmierungen nicht möglich. Zu Hochfesten muss das Geläut per Hand eingeschaltet werden. © Stephan Teine

Dort oben, 119 Stufen über dem Erdboden, lässt die Küsterin gerne den Blick über Südlohn schweifen. „Eine tolle Aussicht, oder?“, fragt sie. Tatsächlich präsentiert sich der Ort aus dieser Perspektive noch einmal völlig neu.

Jeder Winkel ist ausgenutzt

Im Turminneren füllt der Glockenstuhl aus genieteten und verschraubten Eisenprofilen fast den kompletten Turm. Viel Platz bleibt auf der obersten Ebene des Turms nicht. Die fünf Glocken sind so aufgehängt, dass sie zwar frei schwingen können, doch jeder Winkel ist genau bemessen und ausgenutzt.

Die Turmöffnungen wurden vor Jahren schon mit dicken Brettern verschlossen. „Wir hatten immer wieder Probleme mit Vögeln, die sich hier oben eingenistet haben“, erzählt die Küsterin. Vor allem Dohlen haben sich im Turm der St. Vituskirche offenbar besonders wohl gefühlt.

Die ein oder andere Hinterlassenschaft der Vögel ist heute noch auf den Glocken zu sehen. „Das bekommt man nicht mehr sauber“, sagt die Küsterin. Der Vogelkot hat sich tief ins Metall gefressen. Um der Vogelplage Herr zu werden, wurden die großen Öffnungen im Turm kurzerhand verschlossen. Seitdem herrscht im Turm Ruhe.

Glockenschläge dröhnen durch den Turm

Es sei denn, die Glocken läuten. Deswegen mahnt Christina Hayk nun auch zur Eile: Es sind nur noch wenige Minuten bis zur Viertelstunde. Und dann fällt der schwere Hammer auf eine der Glocken. „Wenn man direkt daneben steht, ist das wirklich ohrenbetäubend“, sagt sie und steigt schnell die steile Stiege wieder hinunter.

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Der Zeiger im Uhrwerk, eine Etage tiefer, rückt auf die Viertelstunde vor. Viele Zahnräder und Antriebe im Uhrwerk erwachen zum Leben und von weiter oben dröhnt der Glockenschlag durch den Turm. „Hören Sie?!“, die Küsterin lächelt und zeigt nach oben. Auch eine Etage unterhalb des Glockenstuhls hallt der Schlag noch laut im Turm nach.

Natürlich ist Weihnachten etwas ganz Besonderes im Kirchenjahr. „Es ist das Fest für die Seele“, sagt die Küsterin. Und das Fest, das einfach besser zu vermitteln sei. Dabei ist um Ostern in der Kirche viel mehr zu tun. „Allein wie oft die Kirche dann in kurzer Zeit umgeschmückt wird, ist ein ganz anderer Aufwand, als bei der Weihnachtsdekoration“, erzählt sie.

Küsterin geht nach 20 Jahren in den Ruhestand

Genau genommen ist dieses Weihnachten das letzte für Christina Hayk in der Gemeinde. Seit 20 Jahren arbeitet sie in der Kirche. Zum 1. Januar geht die 63-Jährige in den Ruhestand. „Ich werde es vermissen, doch freue ich mich auf die Zeit, die danach kommt“, sagt sie über ihre Aufgabe in der Gemeinde. Dabei sieht sie tatsächlich ein bisschen traurig aus.

Sie könnte noch viel mehr von der Kirche erzählen. Von der Orgel oder den wertvollen Fresken, die vor einigen Jahren bei der Renovierung gefunden wurden. Doch dafür und für Abschiedsschmerz hat Christina Hayk an diesem Morgen keine Zeit. Vor Weihnachten hat sie noch viel zu tun. Gerade ist sie dabei die große Krippe vor dem Altar aufzubauen. Und da fehlen noch einige Figuren, die sie noch aufstellen muss. Ein letztes Mal.

Wobei – ganz mag Christina Hayk das nicht glauben. „Auch wenn ich in den Ruhestand gehe, werde ich in Gemeinde und Kirche weiterarbeiten“, sagt sie schmunzelnd. „Das ist ja schließlich mein Zuhause.“

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