Die Losbergschule und zwei Ahauser Schulen gehen neue Wege in der Arbeitswelterkundung. Die Schüler sind vom Praxisbezug des Pilotprojekts „Vertiefte Berufswahlorientierung“ ganz angetan.
Der Rollladenmotor surrt, das Warnlicht blinkt. Nach der vorgesehenen Anzahl von Umdrehungen stoppt der Motor planmäßig und automatisch. Ulf Gröting ist zufrieden und stolz. Der 16-jährige hat die die elektrische Steuerung zusammen mit fünf Mitschülern der Losbergschule selbst gesteckt und verdrahtet. Ulf ist leidenschaftlicher Elektro-Bastler. Das Workcamp in der Produktionshalle de Firma AW Automatisierungstechnik an der Porschestraße in Stadtlohn ist für ihn genau das Richtige.
Schüler erhalten vertiefte Einblicke in die Arbeitswelt
„Das hier ist ja eigentlich veraltete Technik“, sagt Ulf, nachdem er die einzelnen Bauteile des Schüler-Schaltkreises erklärt hat. „Aber da vorne wird es richtig spannend, da geht es um programmierbare Schaltungen“, sagt er und zeigt auf den Arbeitsplatz nebenan. Dort steht Mattias Evers (15), so wie Ulf Zehntklässler der Losbergschule an einem Schaltschrank. Dieser Schaltschrank ist keine Schülerarbeit. Er birgt eine komplexe speicherprogrammierbare Steuerung, gebaut von den Profis der Firma AW Automatisierungstechnik. Mit diesem Schaltschrank lässt sich die komplette Energie- und Gebäudetechnik einer Betriebshalle steuern.

Meister, Azubis und Losbergschüler im Fachgespräch über die technischen Details eines Schaltschranks. © Stefan Grothues
Der Auszubildende Rene Vödeging erklärt Matthias und seinen Mitschülern nicht nur die technischen Bauteile. Der ehemalige Losbergschüler und jetzige Azubi erzählt aber auch von seinem Weg in den Beruf, der ihn über ein Praktikum in die Ausbildung als Elektroniker der Automatisierungstechnik führte.
Arbeitsagentur und Städte finanzieren das Projekt
Ungezwungener Wissenstransfer auf Augenhöhe, Berufsorientierung mit Praxisbezug. Das ist das Ziel des Workcamps, bei dem die sechs Losbergschüler an diesem Freitagmorgen die Arbeitswelt und ihre eigenen Interessen und Talente erkunden oder vertiefen. Das Workcamp ist ein Modul des breit angelegten Pilotprojekts „Vertiefte Berufsorientierung“. Durchgeführt wird das zunächst auf zwei Jahre angelegte Pilotprojekt von der Kreishandwerkerschaft Borken im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit und der Städte Ahaus und Stadtlohn. Dieses Projekt wird in Stadtlohn an der Losberg-Hauptschule und in Ahaus an der Irena-Sendler-Gesamtschule sowie der Anne-Frank-Realschule umgesetzt. Finanziert wird es je zur Hälfte von der Arbeitsagentur und den beiden Städten.
Schüler richten ihren Fokus nur auf wenige Ausbildungsberufe
Praktika und Berufsfelderkundungen sind kein Neuland für die Schulen. Im Gegenteil, sie haben zum Beispiel im Landes-Programm „Kein Abschluss ohne Anschluss“ (KAoA) schon jetzt einen hohen Stellenwert. Warum gibt es jetzt ein neues Pilotprojekt? Und wodurch zeichnet es sich aus? „Es gibt 350 duale Ausbildungsberufe in der Region“, erklärt Rolf Heiber, der Leiter der Agentur für Arbeit in Coesfeld. „Aber die Schulabgänger richten ihren Fokus immer noch nur auf 10 oder 15 Berufe.“ Die Unternehmen in der Region böten aber viel mehr, als sich die Schüler vorstellen können.
Die neue vertiefte Berufsorientierung, so der Arbeitsagentur-Chef, eröffne den Schülerinnen und Schülern viele Möglichkeiten, sich und ihre Möglichkeiten in der Arbeitswelt besser kennenzulernen, um eine bewusste, tragfähige und nachhaltige Berufswahlentscheidung treffen. Heiber: „Zehn bis 20 Prozent der Ausbildungsverhältnisse enden heute noch vorzeitig. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Gründe.“ Falsche Vorstellungen von den Anforderungen des Berufs und den eigenen Kompetenzen und Neigungen gehörten zweifellos dazu. Selbst gute Schüler, so Heiber, hätten oft noch ergänzenden Bedarf in der Berufsorientierung und bei der Suche nach ihrem Traumberuf.
Qual der Wahl auf dem Ausbildungsmarkt
Angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten und des für die Schüler guten Ausbildungsmarkts spricht Helen Esser von einem „Luxusproblem“. Helen Esser arbeitet für die Kreishandwerkerschaft und ist Koordinatorin des Pilotprojekts. Sie sagt: „Die Schüler haben heute eher die Qual der Wahl. Umso wichtiger sind Orientierung und Information. Auch damit die Schüler ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und sich wenn nötig bei der Berufswahl auch mal gegen die Wünsche der Eltern durchsetzen können.“
Das Pilotprojekt richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 9 und 10 der Stadtlohner Losbergschule und der Ahauser Irena-Sendler-Gesamtschule sowie der Anne-Frank-Realschule. Arbeitsagentur, Kreishandwerkerschaft und Schulen haben einen „großen Baukasten“ mit 27 Modulen erarbeitet. Dazu gehören neben den Workcamps in den Betrieben, auch die Vorbereitung auf die Vorstellungsgespräche und auf den Arbeitsalltag in den Betrieben. Helen Esser: „Wir geben auch Hilfestellung für ganz praktische Probleme: Wie verhalte ich mich gegenüber dem Chef? Was mache ich, wenn ich krank bin? Was ist, wenn ich mit dem Gesellen Schwierigkeiten habe?“
Ulrich Dellmann ist das Gesicht der Berufsorientierung an der Losbergschule
Berufsberater der Arbeitsagentur, Mitarbeiter der Kreishandwerkerschaft in den Schulen und Lehrer wählen gezielt Schüler für die einzelnen Module aus. Arbeitsagentur-Chef Rolf Heiber: „Wir wollen kein Gießkannenprinzip. Die Schulen und die Schüler sind zu verschieden, als dass jedes Modul überall passen würde. Wir wollen individuell ausgerichtete Gruppenangebote schaffen.“

Ulrich Dellmann berät die die Schüler in der Losbergschüler und begleitet sie auch zum Workcamp in die Betriebe. © Stefan Grothues
Die Schüler können sich für ausgewählte Module auch selbst anmelden. „Bei so vielen Angeboten ist ein roter Faden notwendig – und Beziehungsarbeit“, sagt Birgit Kentrup, die Leiterin der Losbergschule. Das ist an der Losbergschule die Aufgabe von Ulrich Dellmann. Der Elektromeister und Mitarbeiter der Kreishandwerkerschaft hat langjährige Erfahrungen in der Begleitung von Auszubildenden. Jetzt ist er das Gesicht der vertieften Berufsorientierung an der Losbergschule.
„Meine Tür steht immer offen“, sagt Ulrich Dellmann. Und weil sein Büro in der Losbergschule direkt neben den Zehner-Klassen liegt, schauen die Schüler in den Pausen auch gerne rein. In Dellmanns Büro gibt es immer was zu entdecken. Mal ist es ein technisches Bauteil, mal ein altes Fahrrad, das in der Fahrradwerkstatt repariert werden muss. Und weil Ulrich Dellmann kein Lehrer ist, keine Noten vergibt und auch keine erzieherischen Aufgaben hat, ergeben sich hier für die Schüler ganz neue Gesprächsmöglichkeiten. „Ich will den Schülern das Gefühl geben, sie verpassen was, wenn sie nicht bei mir hereinschauen“, sagt Ulrich Dellmann. Er setzt auf Freiwilligkeit und Vertrauen. „Wenn das nicht da ist, dann kann meine Arbeit nicht erfolgreich sein.“
Zur erfolgreichen Arbeit gehören auch die Kontakte zu den Unternehmen in der Stadt, zum Beispiel, um Workcamps in den Betrieben zu organisieren. Bei Andreas Wellner stieß er auf offene Ohren. Andreas Wellner ist der Chef und Gründer der AW Automatisierungstechnik. „Aus der Garage heraus“, so sagt er, habe er das Unternehmen aufgebaut. Heute beschäftigt er in den Bereichen Automatisierung, Elektroinstallation, Elektromaschinen- und Schaltanlagenbau 23 Mitarbeiter. Und weil er ständig auf der Suche nach neuen Auszubildenden ist, holt er Workcamps und Schülerpraktikanten gerne in seinen Betrieb. „Ich frage nicht nach Schulnoten. Ich frage meine Gesellen und Meister, was sie von den Praktikanten halten. Das zählt.“
Gut vorbereitet in den Betrieb
An diesem Freitag sind Gesellen und Meister ganz angetan von der Neugierde und den technischen Vorkenntnissen, die die Losbergschüler mitbringen. „Herr Dellmann hat uns gut vorbereitet“, sagt Zehntklässler Matthias Evers. Damit meint er nicht nur das Workcamp. Matthias hat seinen Ausbildungsvertrag schon in der Tasche: zum Industrieelektroniker bei der Firma Schmitz Cargobull in Vreden. „Ich habe vorher mit Herrn Dellmann über die möglichen Fragen im Vorstellungsgespräch gesprochen. Da wusste ich schon ungefähr, was auf mich zukommen wird.“ Beim Workcamp will er nun seine Kenntnisse für einen guten Ausbildungsstart noch vertiefen. Einblicke in den Berufsalltag hält der 15-Jährige für wichtig: „Weil man nur so erfährt, was Arbeit heißt. Und dann weiß man, wofür man die Schule braucht.“