Die dänische Formel zum Glück
Hygge - der neue Trend
Wer ab und an mal durchatmet und sich eine Auszeit gönnt, dem geht es auch körperlich und psychisch gut. Die Dänen machen es vor – mit dem Lebensgefühl namens Hygge.

Ab unter die Kuscheldecke, Kamin und Kerzen an und mit Freunden oder Familie einen ruhigen Abend verbringen. Besonders an kalten und dunklen Abenden machen wir es uns gerne mal so richtig gemütlich. Dazu ein leckeres Abendessen oder etwas Süßes zum Naschen – da fühlen wir uns alle wohl. Neu ist dieses Lebensgefühl nicht, auch schon früher gab es gemütliche Abende – zum Beispiel am Lagerfeuer. Neu dafür ist allerdings ein Wort, dessen Bedeutung ungemein vielfältig ist: Hygge.
Immer öfter taucht diese dänische Bezeichnung auf – auf Buchtiteln, Magazinen, im Internet. Ganze Wohneinrichtungskollektionen tragen den Namen Hygge. Doch was ist das überhaupt und was steckt dahinter? Verschiedenste Bücher – mittlerweile auch in Deutschland – widmen sich dem Thema Hygge und erklären uns die dänische Art, glücklich zu leben.
Hygge ist eine wichtige Zutat
Die Dänen sind laut des sogenannten World Happiness Reports die glücklichsten und zufriedensten Menschen der Welt. Das Land hat ein funktionierendes Gesundheits- und Bildungssystem, Arbeitgeber bieten eine gute Work-Life-Balance, um genug Zeit für die Familie und sich selbst zu haben. Der Lebensstandard ist hoch. Doch zur dänischen Zufriedenheit gehört viel mehr. Das hat auch der dänische Glücksforscher Mike Wiking herausgefunden. Hygge sei eine wichtige Zutat im dänischen Glücksrezept. Dänen hielten am häufigsten Kontakt zu Freunden und Familie – und empfänden viel Ruhe und Frieden. Aber Gemütlichkeit und Wohlgefühl ist für jeden Menschen etwas anderes – so ist Hygge nicht mit einem Wort zu erklären.
Sich mit einem Kakao auf die Couch setzen, gemeinsam mit Freunden kochen, ein gutes Buch lesen oder einen ausgedehnten Spaziergang in der Natur machen: All das kann Hygge sein. „Sie brauchen keine dänischen Rezepte oder tiefer gehende Kenntnisse des skandinavischen Lebensstils, um es sich hyggelig zu machen“, schreibt Louisa Thomsen Brits in ihrem Buch „Hygge“. „Es mag schon reichen, dass Sie sich fragen, wo genau Sie sich am ehesten zu Hause fühlen, welche Unternehmungen und Angewohnheiten Ihnen das Gefühl geben, verwurzelt zu sein, in Gesellschaft welcher Menschen Sie locker und gelöst sind, was am meisten dazu beiträgt, dass es Ihnen gut geht, was Sie tun, um sich zu entspannen und Geborgenheit empfinden.“
Das Lebensgefühl Hygge ist also nicht greifbar, es hat nichts mit materiellem Besitz zu tun, Geld oder Macht. Es geht eher darum, sich auf die einfachen und schönen Momente zu besinnen, in denen es uns so richtig gut geht. Prof. Dr. Tobias Esch von der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke forscht viel zum Thema Glück und weiß: „Der Mensch hat das Bedürfnis in der Welt zu überleben. Je mehr es draußen kälter und stressiger wird, desto mehr braucht er den Hafen, in den er einfahren kann. Da kann er loslassen. Das trägt zum Lebensglück bei.“
Kerzen sind Hygge
Für die Dänen braucht der heimische Hafen für die Hyggeligkeit etwas ganz Bestimmtes, auf das sie nicht verzichten können: Kerzen. Laut einer Untersuchung des dänischen Glücksforschers Maik Wiking sagen 85 Prozent der Dänen, dass sie Hygge mit Kerzen verbinden. „Nach Angaben des europäischen Verbandes der Kerzenhersteller werden in Dänemark pro Kopf mehr Kerzen abgebrannt als in jedem anderen europäischen Land: Jeder Däne verbraucht im Jahr etwa sechs Kilo Kerzenwachs“, schreibt Maik Wiking in seinem Buch „Hygge – ein Lebensgefühl, das einfach glücklich macht“.
Wir haben gelernt: Hygge kann alles sein, was zu unserem persönlichen Wohlbefinden beiträgt. Etwas kann nicht nur Hygge sein, sondern auch hyggelig. Die heimliche Lieblingshose, die man in der Öffentlichkeit nicht tragen kann, die aber so unglaublich bequem ist, nennen die Dänen Hyggebukser. Eine gemütliche Unterhaltung ohne hitzige Themen heißt Hyggesnak und ein besonders schöner Moment ist eine Hyggestund. Doch woher kommt der Begriff Hygge überhaupt? Er tauchte in der dänischen Schriftsprache zum ersten Mal zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf – doch das Wort Hygge stammt ursprünglich aus Norwegen, was so viel wie „Wohlbefinden“ bedeutet. Die Dänen haben es sich einfach irgendwann zu eigen – und Hygge zu ihrem Lebensgefühl gemacht. So ist jedem Dänen Hygge ein Begriff – zum Beispiel auch Christian Jacobsen, Student aus Aalborg: „Hygge ist, wenn man denkt: ‚Das ist der perfekte Moment.‘“
Für die dänische Studentin Laura Høvring Møller ist Hygge „mehr als ein Gefühl – es gibt kein echtes Rezept dafür“, sagt sie. Für Laura bedeutet Hygge aber auch, frei zu sein und nicht viel Geld auszugeben.
„Es ist mehr Hygge, wenn man sich zuhause eine heiße Schokolade macht, als in einem Café Geld dafür auszugeben.“ Sie glaubt, dass Hygge viel zur eigenen Gesundheit beiträgt. Viele Menschen seien viel zu beschäftigt und gestresst – „das ist nicht gut. Also bin ich überzeugt, dass Hygge uns helfen kann.“
Das bestätigt auch die Forschung: Tobias Esch erklärt: „Eine Pause und Auszeit ist eine innere Einkehr. Es ist ein Gegenspieler zum Stress. Da passiert viel – sowohl psychisch als auch physisch.“ Typische Symptome bei zu viel Stress seien Bluthochdruck, Schlafprobleme, Nervosität, Verspannung und noch vieles mehr. „Wenn ich in die Entspannung gehe, werden die Symptome heruntergeregelt. Das geht innerhalb von Sekunden.“
Nicht über Politik diskutieren
Hygge bedeutet für viele Dänen aber nicht nur Entspannung, sondern auch, nicht über politische und umstrittene Themen zu diskutieren, wenn sie zusammen sitzen. Das ist unhyggelig. Man spricht lieber über etwas Schönes, Amüsantes. In Zeiten, in denen die Nachrichten voll sind mit Tragödien, politischer Zerrissenheit, Krieg und Terroranschlägen brauchen die Menschen auch mal eine Auszeit, eine unbeschwerte Zeit. Das sagt auch Maik Wiking. In der ZDF-Sendung „sonntags“ sagt er: „Im Zuge der Digitalisierung, des Konsumüberflusses, möchte man sich einfach auf sich selbst und auf sein eigenes Umfeld konzentrieren. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass die Gesellschaft zwar reicher, aber nicht glücklicher wird.“
Dieses Bestreben, dieser Lifestyle hat allerdings auch dunkle Seiten. Bernd Henningsen ist Skandinavist und sagt in der genannten Sendung: „Man muss nicht nur Hygge in den Blick nehmen, sondern auch die politischen und sozialen Bewegungen – da beobachtet man ja überall, dass es um einen Rückzug in die Vergangenheit geht.“ Das Gravierendste an Hygge sei der Rückzug aus Politik und Öffentlichkeit, „der Rückzug aus dem, was unser Leben eigentlich bestimmt. Es wird uns eine Wirklichkeit vorgegaukelt, die es so gar nicht gibt.“ Mit anderen Worten also: In der Welt geschehen schlimme Dinge – aber ich mache mir nichts draus und trinke heiße Schokolade.
Gesundes Gleichgewicht finden
Tobias Esch findet den Vorwurf berechtigt. Doch von seiner Seite gibt es ein großes Aber: „Wenn Sie die innere Verbundenheit mit sich und anderen praktizieren, dann ist man weniger gestresst. Man kann sich nachweislich besser konzentrieren. Man kann besser Entscheidungen treffen, bekommt ein besseres Bewusstsein für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit“, erklärt der Forscher. Man müsse ein gesundes Gleichgewicht finden, sagt er – zwischen der Außenwelt und dem eigenen behüteten Nest. Hygge heiße nicht zwingend, dass man alles um sich herum ignorieren müsse, es gehe um die persönliche Auszeit zwischendurch.
In der genannten ZDF-Sendung erklärt der dänische Anthropologe Jeppe Linet, warum Hygge nicht nur in Dänemark so gelebt und geliebt wird, sondern auch auf der ganzen Welt Begeisterung auslöst. In einem Moment des eigenen Wohlgefühls geht es dem Menschen gut – sowohl körperlich als auch psychisch. Und das hat einen Grund: „Hygge lässt dich eine Weile den Stress und die Anforderungen vergessen, unter denen zu stehst. Es gibt dir ein Gefühl des Schutzes vor Menschen und Dingen, die dich unter Druck setzen.“
Die wichtigsten Dinge
Und Jeppe Linet fasst das, was den Dänen so wichtig ist, in nur einem Satz zusammen: „Die wichtigsten Dinge deines Lebens kann dir niemand wegnehmen, weil es nichts mit Geld zu tun hat, sondern mit der Nähe, mit dem Zusammensein mit anderen Menschen.“ Und das kann jeder von uns – egal ob Däne, Deutscher oder Amerikaner – bestätigen.
Die meisten von uns brauchen soziale Kontakte und eine feste Gemeinschaft. Maik Wiking hat herausgefunden, dass im Durchschnitt 60 Prozent der Europäer mindestens einen Abend pro Woche mit Freunden, Familie oder Kollegen verbringen. „Der entsprechende Wert in Dänemark liegt bei 78 Prozent“, sagt er. Und sogar wissenschaftlich ist es bewiesen, dass sozialer Kontakt unserem Körper guttut. Spüren wir körperliche Nähe und Zuneigung, schüttet der Körper das Hormon Oxytocin aus. Wir haben weniger Stress und Angst – somit fühlen wir uns glücklicher. Maik Wiking: „Wir fühlen uns geliebt, warm und sicher – drei Schlüsselbegriffe von Hygge.“