
© Marie Rademacher
Transsexuell in der Kleinstadt: „Ich bin doch nicht ansteckend“
Lesetipp
Justin aus Selm ist im falschen Körper auf die Welt gekommen. Er lebt in einer Kleinstadt. Die Geschichte eines Kampfes.
Jaqueline weint. Und weint und weint und weint, als sie zum ersten Mal ihre Tage bekommt. Sie empfindet puren Ekel vor sich selbst – das ist das eine. Was sie vor allem fühlt, ist aber, dass irgendetwas nicht richtig ist. Fremd. Tief in ihr drin.
Mit ihrem Körper, ihrer Weiblichkeit. Und dieses Gefühl, was jetzt in „Rotz und Wasser“ herausbricht, war irgendwie auch schon immer da. Wenn ihr Vater ihr langes Haar zu Zöpfen flechtet oder sie ein Kleid anziehen soll. Wenn sie auf der Straße in der Nachbarschaft neue Kinder zum Spielen trifft und sich als Jaqueline, also als Mädchen vorstellen muss.
Einmal, sie ist da sechs oder sieben Jahre alt, sagt sie einfach, sie sei Pascal. „In dem Moment habe ich gar nicht darüber nachgedacht. Ich war einfach der Meinung, dass ich ein Junge bin“, erinnert sich Justin an diesen Moment. Justin. Denn das Mädchen Jaqueline gibt es nicht mehr.
Raue Stimme, kurze Haare
Justin ist jetzt 20 Jahre alt. Seine Haare sind kurz, seine Stimme rau und dunkel, die Wangen frisch rasiert. Leicht vorgebeugt sitzt er am Tisch und redet offen über ein Thema, das er so lange nur mit sich selbst ausgemacht, in sich hineingefressen hat. Dass er im falschen Körper auf die Welt gekommen ist. Dass er transsexuell ist. „Das war alles schon ein ziemlicher Streit mit mir selber“, sagt er. Was ihm heute aber wichtig ist: „Das ist keine Krankheit, und ich bin auch nicht ansteckend.“
Trans-Mann aus Selm
Diese Aussage, die Justin so wichtig ist, unterstreicht auch Experte Dr. Michael Szukaj. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Münster und behandelt seit den 1980er-Jahren transsexuelle Menschen. Im Gespräch mit der Redaktion erklärt er: „Transsexualität ist keine irgendwie geartete Form der Geschlechtsidentitätsstörung.“ Keine psychische Krankheit also.
„Transsexualität bedeutet, dass sich jemand im anderen Geschlecht fühlt. Das heißt also, dass jemand, der eigentlich körperlich männlich ist, sich weiblich fühlt oder andersrum“, so Michael Szukaj weiter. Dieses Gefühl oder dieses Erleben sei etwas, das nicht weggehe. Sondern etwas, das bleibt. Das zu der Persönlichkeit der Menschen gehöre.
Wie das kommt, konnte die Wissenschaft noch nicht klären. In den meisten Fällen, so Michael Szukajs Einschätzung als langjähriger Experte, sei Transsexualität aber biologisch determiniert. Schon in der Schwangerschaft der Mutter, so die wissenschaftliche Hypothese, die er für am wahrscheinlichsten hält, komme es durch anormale hormonelle Einflüsse dazu, dass sich im Kopf des Kindes ein Geschlechtsempfinden entwickelt, das nicht dem körperlichen Geschlecht entspricht. „Das erklärt auch, dass viele Betroffene sagen: Das war schon immer so.“
So war das auch bei Justin. „Eigentlich wusste ich es schon immer“, sagt er. Schon mit 12 oder 13 outet Justin sich als lesbisch. „Aber mir hat irgendwie immer noch etwas gefehlt“, sagt er im Rückblick. Was genau das sein könnte, wird ihm klar, als er den Christopher-Street-Day (CSD) besucht.
„Zum ersten Mal verstanden gefühlt“
Dort trifft er jemanden, der trans ist. Auch trans ist. „Da habe ich mich zum ersten Mal verstanden gefühlt“, sagt Justin. Im Internet macht er sich schlau zu dem Thema, schaut Reportagen, liest Artikel, findet Menschen, die ähnlich empfinden wie er.
In der Schule, der Borker Hauptschule, hat Justin damals keine gute Zeit, wird oft gehänselt, richtig gemobbt. Auch wegen seines Aussehens. Die Brüste bindet er sich damals schon ab, damit nicht alle sehen, wie groß sie werden, wie weiblich er ist. Er trägt lieber Jungenklamotten, meistens eine Cappy.
So richtig reden kann er mitten in der Pubertät mit keinem über das, was ihn bewegt. „Ich war vier Jahre lang komplett alleine damit. Einerseits habe ich mir schon gewünscht, jemanden zu haben. Aber… Früher wollte ich nicht so gerne reden. Ich habe viel in mich hineingefressen. Und das war auch der Moment, wo ich Depressionen bekommen habe. Alles hatte sich in mir angestaut. Ich bin komplett nicht mehr klargekommen, wollte alles von mir abreißen und abschneiden“, sagt Justin. Er rutscht ab. Beginnt, sich selbst zu verletzen, Drogen zu nehmen.
Das Innenleben vieler Betroffener
Nicht untypisch für Menschen, die Transsexualität erleben. „Die Angst davor, dass die Umgebung mich nicht akzeptiert, die Familie mich ablehnt, meine Frau mich verlässt, ich meinen Arbeitsplatz verliere oder mich in der Schule alle auslachen, ist gepaart mit der für mich klaren inneren Überzeugung, dass ich dem anderen Geschlecht angehöre. Und das erzeugt ungeheure Belastungen und Spannungszustände, die bei vielen Betroffenen häufig zu anderen psychischen Erkrankungen führen“, erklärt Michael Szukaj das Innenleben vieler Betroffener. „Ich habe etwas in mir, das werde ich nicht los, und gleichzeitig habe ich aber eine große Angst, das zu veröffentlichen, weil ich denke: Es wird nicht akzeptiert.“
Auch wenn Transsexualität keine psychische Erkrankung ist: Aus ihr können viele erwachsen, der Leidensdruck der Betroffenen ist groß und, so Michael Szukaj, sehr viele Betroffene nehmen sich deshalb auch das Leben.
Outing als Erleichterung
Mit der Hilfe seiner Familie und vor allem seiner besten Freundin Vivien findet Justin heraus aus Drogen und Depressionen. Und dass er sich nicht nur sich selbst, sondern auch allen anderen gegenüber outen muss, um gesund zu bleiben, wird ihm schnell klar.
„Seit Anfang 2016 bin ich Justin“, sagt er. Das heißt: Er gibt sich selbst einen anderen Namen, löscht alle Profile und Adressen, bei denen er noch als Jaqueline geführt wird, er redet mit seiner Mutter, mit seinem Vater, mit seinen Geschwistern, seiner Klasse, den Freunden, einfach allen darüber, dass er ein Trans-Mann ist. „Das war einfach so eine große Erleichterung“, sagt er heute.
Damals, das weiß er auch noch sehr gut, war es aber auch eine Überwindung. Und es war nicht einfach für seine Familie, das sagt Justin ganz klar. Seine Mutter, die selbst lesbisch ist, reagiert impulsiv, will nicht wahrhaben, was Justin, den sie als Tochter auf die Welt gebracht hat, ihr da sagt. Mittlerweile ist das anders, jetzt hat sie akzeptiert, dass Jaqueline nun Justin ist. Bei Justins Vater ist das etwas anders. „Er nennt mich immer noch Jaqueline“, sagt Justin. Das verletzte ihn. „Aber ich kann ihn ja auch verstehen“, sagt Justin. „Für ihn ist es auch nicht leicht.“

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Über einen Freund, der auch Trans-Mann ist, findet Justin einen Therapeuten, beginnt zusammen mit diesem erstens mit der Aufarbeitung seiner Geschichte und Empfindungen, aber auch damit, aktiv auf das Geschlecht hinzuarbeiten, zu dem er sich zugehörig gefühlt.
„Schon nach der ersten Sitzung mit meinem Therapeuten waren alle Zweifel, die ich natürlich irgendwie auch immer hatte, weg. Ich war mir ganz sicher: Ich bin transsexuell“, sagt Justin. Und: Ich will auch so leben. Die Treffen mit seinem Psychologen, der auch die Indikation für die Geschlechtsanpassung gibt, sind Justin sehr wichtig, sagt er.
„Dass der Therapeut sagt: Du kannst nichts dafür, das hätte mir genauso passieren können, das ist schicksalhaft. Das ist eine ganz, ganz wichtige Komponente“, sagt Michael Szukaj über die Rolle der Behandler. Es sei wichtig, den „Patienten zu entlasten und zu sagen: Das hast du dir ja nicht ausgesucht, um deine Umgebung zu terrorisieren. Sondern du bist geschlagen mit diesem Erleben und du hast das Recht, dich der Umgebung in diesem deinem Erleben zuzumuten. Du hast das Recht zu sagen: Hier stehe ich und ich kann nicht anders“, erklärt der Experte weiter.
Oft, so sagt Michael Szukaj, sei der erste Schritt zur Angleichung für die Patienten entsprechend mit einem Endlich-Gefühl verbunden. So war das auch bei Justin. Ein großes Lächeln schleicht sich in sein Gesicht, wenn er von dem Beginn seiner Hormon-Behandlung erzählt.
Damals, als er das Rezept für die erste Testosteron-Spritze in der Hand hielt, kamen ihm die Tränen. Dieses Mal vor Freude. „Das klingt total übertrieben: Aber als ich diese Spritze bekommen habe, hatte ich zwei Stunden später einen Kloß im Hals. Und ich habe gemerkt: Dieser Adamsapfel, er will raus.“
Gut ein Jahr ist das jetzt her. In der Zeit hat sich die Stimme von Justin verändert, ist sehr viel tiefer geworden. Es wachsen ihm Haare „an allen möglichen Stellen“, wie er sagt.
Diskriminierung von Transsexuellen
Seit dem Sommer macht Justin eine Ausbildung zum Altenpfleger in Selm. Auf seiner Station konnte er als Justin anfangen – vielleicht auch deshalb gibt es im Alltag keine Probleme, nur weil er ein Trans-Mann ist. Er hat eine feste Freundin, die ihn voll unterstützt – „auch wenn sie gerade viel mit mir durchmacht“, sagt Justin.
So viel Rückhalt und Akzeptanz erleben nicht alle Menschen, die in Justins Situation sind, wie Alexander S. aus dem Vorstand des Vereins Trans-Mann erklärt, der sich als gemeinnütziger Verein seit 20 Jahren für die Anliegen, Rechte und Probleme von Trans-Männern einsetzt.
„Leider erleben Betroffene nach wie vor, dass das Thema stigmatisiert ist und erfahren Ablehnung und Unverständnis. Dies äußert sich in vielen verschiedenen Situationen und Variationen. Angefangen von sozialen Problemen und Ausgrenzungen, bis hin zu Problemen im medizinischen oder beruflichen Umfeld.“ Diskriminierung, so erklärt er weiter, passiere in ganz unterschiedlichen Formen. „Sie gipfelt leider auch immer wieder in physischer und psychischer Gewalt an den Betroffenen. Bewerbungen werden abgelehnt, Partner- und Freundschaften ad acta gelegt, Wohnungen nicht vermietet an Betroffene, medizinische Versorgungen untersagt, juristische Umsetzungen verweigert oder erschwert - wie zum Beispiel die Neuausstellung von Urkunden nach der Personenstands- und Vornamensänderung.“
Kritik am Transsexuellen-Gesetz
Die offizielle Änderung seines Namens und des Personenstandes steht Justin auch noch bevor. „Ich bin da aber gerade schon bei“, sagt er. Das Ganze sei aber ein ziemlicher Papierkrieg. „Ich muss einen Trans-Lebenslauf schreiben. Dann muss ich Prozesskostenhilfe beantragen. Dann muss ich Gutachten beantragen – zwei braucht man.“ So schreibt es das Transsexuellengesetz (TSG) vor, das in Deutschland mit einigen Änderungen seit 1981 gilt. Und das oft in der Kritik steht.
Als es beschlossen wurde, galten die Betroffenen gemeinhin noch als „persönlichkeitsgestörte Freaks“, so Michael Szukaj, ihre Transsexualität wurde als psychische Krankheit eingestuft. Die Ansicht ist mittlerweile überholt: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt Transsexualität nicht mehr auf ihrer Liste der psychischen Erkrankungen. Allerdings auch erst seit Juni 2018. Das TSG basiert noch auf einer ganz anderen Grundlage.
„Das TSG in seiner aktuellen Form gehört dringendst überarbeitet und ist definitiv nicht mehr zeitgemäß. Glücklicherweise sind bereits durch EU-Bestimmungen einige Absätze und Bestimmungen entkräftet beziehungsweise als ungültig erklärt worden.“ Alexander bezieht sich damit auf die ursprünglich in den Gesetz enthaltene Vorgabe, dass Betroffene zur Personenstandsänderung ihr Geschlechtsteil schon operativ angepasst haben mussten beziehungsweise fortpflanzungsunfähig sein mussten, um ihr offizielles Geschlecht zu ändern. Seit 2011 gibt es diesen Passus nicht mehr im Gesetz.
Weiterhin gibt es aber Kritik daran, dass zur Namens- und Personenstandsänderung zwei Gutachten und ein Gerichtsurteil notwendig sind, das Verfahren teilweise mehrere Jahre dauert.
„Ich muss dafür vors Gericht. Warum? Das will einfach nicht in meinem Kopf rein“, sagt auch Justin. Trans-Mann e.V. und der Bundesverband Trans* setzten sich politisch dafür ein, dass das TSG überarbeitet wird und der Gerichtsweg einem unbürokratischen Behördenakt weicht - ohne dass Gutachten notwendig wären.
Trans-Mann e.V.
- Den gemeinnützigen Verein Trans-Mann e.V. gibt es seit 1999.
- Der Grund für gemeinnützige Vereine wie der Trans-Mann e.V. ist natürlich immer der, für Betroffene eine Hilfestellung zu leisten“, erklärt der Vorstand des Vereins. „Wir haben uns stets die Grundsätze und Hauptaufgaben ,informieren und unterstützen‘ auf die Fahne geheftet.“
- Weiter heißt es: „Dabei unterstützen wir alle Menschen, die sich mit ihrem Geschlechtseintrag „weiblich“ falsch oder nicht ausreichend beschrieben fühlen. Dies inkludiert auch alle Inter-Menschen und nonbinäre Menschen. Ebenso bieten wir auch Hilfe an für Angehörige, PartnerInnen und Interessierte.“
- Unterstützung und Hilfe gibt es in der Facebook-Gruppe des Vereins, über Info-Hefte und auf der Homepage. Dort gibt es unter anderem eine Adressenliste mit geeigneten Ärzten, den Kontakt zum Notfall-Telefon und weitere Infos zu Regionalgruppen und weiteren Veranstaltungen.
Das ist ein Punkt, den der Psychologe Michael Szukaj etwas kritischer sieht. Allerdings aus rein praktischen Gründen. „Ich kann verstehen, dass viele Betroffene sagen, das ist eine Prozedur, die will ich nicht, die kostet Geld, das ist ungerecht. Aber das unreflektierte Wegstreichen dieses Verfahrens hätte für viele Betroffene einen noch größeren Nachteil“, sagt er und bezieht sich vor allem auf die Gerichtsgutachten.
Seiner Erfahrung nach akzeptieren die Sozialen Dienste der Krankenkassen, wenn es um die Frage der Übernahme der Kosten von geschlechtsangleichenden Operationen geht, häufig aus Ermangelung von geeigneten Behandlern die Gutachten aus dem gerichtlichen Verfahren. Gäbe es diese nicht mehr, so Michael Szukaj, könnte es zu Problemen oder Verzögerungen bei der Kostenübernahme von geschlechtsangleichenden Eingriffen kommen.
Komplizierte operative Eingriffe
Die, auch das steht im Transsexuellengesetz, übernimmt die Krankenkasse in der Regel. Justin will, so erzählt er, auch auf medizinischer Ebene auf jeden Fall den ganzen Weg gehen. „Komplett. 100 Prozent“, sagt er. Die Brüste sollen weg, das ist noch der einfachere Schritt. Wenn es um das operative Erstellen eines Penis als letzten Schritt der Geschlechtsangleichung geht, wird das schon schwieriger. Es handelt sich um einen schwierigen Eingriff. Und. „Es ist halt fifty/fifty, ob ich dann überhaupt etwas fühle. Aber ich will’s“, sagt er.
Wie das alles läuft mit dem Gericht, der Krankenkasse und so weiter, macht ihm keine Angst. „Ich mache mir da eigentlich überhaupt keine Sorgen“, sagt er und schaut lieber entspannt nach vorn auf die Strecke, die noch vor ihm liegt. Zur körperlichen Männlichkeit. Und damit auch zu sich selbst.
Ich mag Geschichten. Lieber als die historischen und fiktionalen sind mir dabei noch die aktuellen und echten. Deshalb bin ich seit 2009 im Lokaljournalismus zu Hause.
