Geübte Wanderer legen vier Kilometer in der Stunde zurück, manchmal auch etwas mehr. Wer dagegen nur gemächlich spazieren geht, schafft drei Kilometer. Schneckentempo ist das alles noch nicht. Was das bedeutet, lässt sich aber im Cappenberger Wald beobachten - und das an ungeahnter Stelle. Dort kraxeln wirbellose Dauerläufer mit 0,003 Stundenkilometern - also 3 Metern pro Stunde - nicht nur über den Boden, sondern steil die Bäume hinauf. Schnecken in schwindelnder Höhe: was soll das denn? Schneckenexperte Klaus Korn kennt das Phänomen.
„Die Schnecken weiden die Baumstämme ab“, sagt der Naturschützer aus Sundern. Zwar sehen die Weichtiere klassischen Weidetieren überhaupt nicht ähnlich, dennoch haben sie einen Riecher für gute Weidegründe - in diesem Fall auf der glatten Buchenrinde. Das mit dem Riecher meint er dabei wortwörtlich. Denn Schnecken nehmen mit ihren empfindlichen Sinnesorganen schon aus mehreren Metern Entfernung Nahrungsquellen wahr: im Garten den Salat, im Cappenberger Wald die Algen, Flechten und Pilze in den Baumwipfeln. Riechen, Schmecken, Tasten: all das ist Schnecken möglich. Nur hören können sie nicht. Das ist auch nicht nötig, wenn sie kopfüber am Baum kleben.
Klaus Korn wundert das Verhalten nicht. „Schnecken sind gute Kletterer.“ Sicherheitsseile und Steigeisen brauchen sie dafür nicht. Der Schneckenschleim, der sie festklebt, reicht aus, um den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen. Und das, obwohl sie oft ihr ganzes Haus dabei haben. Dass sie so hoch hinaus wollen, habe weder etwas mit der Jahreszeit zu tun, noch mit dem Cappenberger Wald, sagt Korn. „Das ist ihr natürliches Verhalten.“ Überall. Allerdings nicht jederzeit.
Winterstarre steht bevor
Ob hoch oben auf den Bäumen des größten zusammenhängenden Laubwaldes im Kreis Unna, unten am Ufer des Gerlingsbaches, der ihn durchzieht oder anderswo: Die Schnecken fressen mit ihren spitzen Raspelzungen zurzeit mehr denn je. Die besonders häufig zu beobachtenden Weinbergschnecke mit ihrem beige-gestreiften Schneckenhaus von bis zu fünf Zentimetern Durchmesser bringt rund 30 Gramm auf die Waage. Sechs Gramm pro Tag muss sie fressen.
Jetzt erst recht. Denn sie benötigt ein Polster für die bevorstehende Zeit der Winterstarre: eine Phase, in der sie sich weder bewegen, noch etwas zu sich nehmen wird. Laut dem Schneckenexperten Korn steht diese Zeit unmittelbar bevor. Deshalb werden die Schnecken von den Bäumen herabkommen müssen. Denn ihr Winterlager ist in der Regel nicht in windigen Höhen, sondern in geschützter Tiefe. Die Schnecken, die schon unerwartete Kletterkünsten bewiesen, überraschen Laien jetzt auch noch mit der Fähigkeit zu graben.

Die Weinbergschnecke zum Beispiel: Sie besteht wie alle ihre Verwandten aus der riesigen Familie der Weichtiere aus Kopf, Fuß und Eingeweidesack, der in ihrem Fall von dem beige-farbigen Kalkmantel geschützt wird. Der Kopf mit vier Fühlern - die Augen sind am Ende der beiden großen Fühler vorne - geht unmittelbar in den muskulösen Fuß über. Der ist so kräftig, dass er eine Winterhöhle graben und von innen verschließen kann. Das ist aber nicht der einzige Schutz. „Die Weinbergschnecke sondert ein kalkhaltiges Sekret ab, das an der Luft zu einem harten Deckel wird“: eine fest verschlossene Haustür, die die Schnecke erst im nächsten März oder April aufsperren wird. Mit der gleichen Methode können Schnecken im heißen Sommer auch Zeiten der Trockenheit überdauern. Einfach Tür zu, bis die Bedingungen besser sind für das Feuchtigkeit liebende Tier.
„Ich habe einmal eine Weinbergschnecke entdeckt, die ein unverkennbares Haus hatte“, erzählt Korn. Offenbar war der Kalkmantel so leicht beschädigt worden, dass der Körper unverletzt blieb und die Schnecke die Fehlstelle reparieren konnte. Korn begann, zu notieren, wann und wo er diese unverwechselbare Schnecke wiedersah: „Das ging so neun Jahre lang“; sagt er.

Das Schneckenhaus muss ein echter Vorteil sein. Denn Nacktschnecken, die sich jetzt im Herbst auch ein warmes Plätzchen im frostfreien Boden suchen, werden meist nur ein bis zwei Jahre alt. Zwar können sie sich besser in Ritzen verkriechen ohne störende Last auf dem Rücken, dafür haben sie aber eben auch keinen angewachsenen Rückzugsort. Gegen Fressfeinde schützen sie sich anders: durch bitteren Schleim. Kröten, Igel und Vögel mögen die Schnecken mit Haus daher wesentlich lieber, wenn sie sie kriegen können. An Baumstämmen ist das allerdings schwieriger als am Boden.
Ob mit oder ohne Haus, im Cappenberger Wald oder bei sich zuhause im Sauerland: Schnecken sind für Klaus Korn faszinierend. Auch, weil es sie schon seit mehr als 500 Millionen Jahren auf der Erde gibt – also viel länger als Dinosaurier. Auch wenn sie immer im Schneckentempo unterwegs waren, haben sie nahezu alle Lebensbereiche besiedelt. Ab und zu auch die Baumwipfel im Cappenberger Wald.


Nacktschnecke im Tiger-Dress ist der Kamasutra-Meister der Weichtiere
Geheimnisvolle rote Katzen: Fellfarbe sagt auch etwas aus über das Wesen
Apfelbaum spielt verrückt: Lüner Apfelexperte Papius: „Das habe ich noch nicht gesehen“