Was genau die Kinder bewegt hat, in das große rote Backsteingebäude zwischen Olfener Straße und Bahnstrecke Dortmund-Enschede zu klettern, wird wohl immer ihr Geheimnis bleiben. Dass das mehr als 130 Jahre alte, leerstehende Gebäude eine magische Anziehungskraft auf abenteuerlustige Menschen ausübt, die Lost Places spannend finden, ist aber seit Jahren zu beobachten. Ein zwölfjähriger Junge bezahlte seine Neugierde am Pfingstmontag mit einem Riesenschrecken und Atemnot: der Auftakt für einen mehrstündigen Feuerwehreinsatz und neue Forderungen.
Die erste Einsatzmeldung ging gegen 16.50 Uhr bei der Polizei ein. Vor Ort an dem verlassenen Gebäude am Selmer Ortseingang trafen die Beamten nicht nur aufgeregte Kinder an, sondern auch Behälter mit undefinierbarem Inhalt. Einen davon hatte offenbar der Zwölfjährige geöffnet. Die austretenden Dämpfe hatten ihn nicht nur erschrocken, sondern auch für gesundheitliche Probleme gesorgt: der Anlass, sofort den Rettungsdienst zu rufen und das Kind vorsorglich zum Krankenhaus zu bringen. Die Kinder hatten zu diesem Zeitpunkt längst das verwahrloste Gebäude verlassen. Alle, die es danach betraten, trugen Schutzkleidung mit Atemschutzmasken.
Die Freiwillige Feuerwehr Selm war ab 18.15 Uhr vor Ort, wie Feuerwehrchef Thomas Isermann sagt: eine Aufgabe für den Löschzug 1, die noch bis nach 20 Uhr dauerte. Die besondere Herausforderung: Zu dem Zeitpunkt, als die Einsatzkräfte eintrafen, war noch nichts über die Art der in dem großen Gebäude gelagerten Flüssigkeiten bekannt. „Unsere Aufgabe war es, die Stoffe sicherzustellen und zu analysieren.“ Dafür galt zum Eigenschutz ein hoher Sicherheitsstandard, wie Isermann betont. Seine ehrenamtlich tätigen Kolleginnen und Kollegen in den orangefarbenen Spezialanzügen konnten nach entsprechender Vorarbeit aber aus dem Innern des Gebäudes Entwarnung geben: „Es besteht keine akute Gefahr.“ Um was genau es sich handelte, teilte Isermann nicht mit. Nur so viel: Die Feuerwehr habe daraufhin ihre Maßnahmen eingestellt. Und andere haben Maßnahmen ergriffen.
Stadt beauftragt Entsorger
Wie Stadtsprecher Malte Woesmann bestätigt, hatte der Rettungsdienst das Ordnungsamt der Stadt Selm gerufen. Mitarbeiter, die Rufbereitschaft hatten, waren vor Ort. Wenig später auch der Eigentümer der Alten Molkerei, ein Geschäftsmann aus Lüdinghausen. Bei ihnen blieb es nicht. Denn die in der Molkerei vorgefundene Flüssigkeit musste fachgerecht entsorgt werden, wie die Vertreter der Stadt Selm befanden: keine Aufgabe für die Feuerwehr, sondern für eine Fachfirma. „Auftraggeber war die Stadt Selm“, so Woesmann auf Anfrage. Der Gebäudeeigentümer habe aber eine Kostenübernahme des Einsatzes zugesichert.
Woesmann lüftete auch das Geheimnis, um was für eine Art Flüssigkeit es sich handelte: „Schwefelsäure und ähnliche Stoffe.“ Schwefelsäure - selbst verdünnt - kann Augen- und Hautverletzungen verursachen. Der Arbeitsschutz schreibt beim Umgang mit entsprechenden Stoffen „unbedingt eine Schutzbrille, geeignete Schutzhandschuhe und einen geschlossenen Laborkittel“ vor. Für Schülerversuche in der Sekundarstufe I wird empfohlen, nur mit der verdünnten, zehnprozentigen Lösung zu arbeiten. Der Privatbesitz von konzentrierter Schwefelsäure ist in der EU verboten. Frei ist die verdünnte Säure bis 15 Prozent.
Kauf oder Enteignung?
Hat der Eigentümer einen Fehler gemacht, weil er die Chemikalien in der Alten Molkerei frei zugänglich gelagert hatte? Stadtsprecher Malte Woesmann widerspricht. Bei der Alten Molkerei handele es sich schließlich um ein Privatgrundstück. Und da seien die Regeln eindeutig: Es sei eben nicht frei zugänglich und dürfe nicht ohne Zustimmung des Eigentümer betreten werden. Spuren auf dem Grundstück und in und an dem Gebäude verraten, dass sich nicht nur der Zwölfjährige und seine Freunde darüber hinweg gesetzt haben in der Vergangenheit. Das soll künftig nicht mehr möglich sein, wie Woesmann mitteilt: Der Grundstückseigentümer habe anlässlich des Einsatzes zugesichert, „das Gebäude, unter anderem durch Zumauern der Eingänge, zu sichern.“

Zugemauerte Türen werden die Alte Molkerei nicht schöner machen, an der jeder vorbeikommt, der aus Westen nach Selm fährt. Dass es sich bei dem zunehmen verfallenden Gebäudekomplex um einen „Schandfleck“ handelt, steht in Selm schon jetzt außer Frage: ein Ärgernis, das regelmäßig in den politischen Gremien hohe Wellen schlägt - bislang aber ohne Wirkung. Denn alle Anläufe der Stadt Selm, die Schrottimmobilie in zentraler Lage dem bisherigen Eigentümer abzukaufen, sind bislang gescheitert. „An der Höhe des Kaufpreises“, wie Woesmann sagt.
Eine mögliche Enteignung prüfe die Stadtverwaltung derzeit nicht, so Woesmann. Wohl auch, weil die Erfolgsaussichten gering sind, wie der Stadtsprecher bereits vor zwei Jahren sagte. Nur, wenn von dem Gebäude Gefahren ausgingen, bestehe eine Chance, das im Grundgesetz verbürgte Eigentumsrecht auszuhebeln. Es bleibt damit so, wie es bereits 2006 der Selmer Rat beklagt hat: „ Der illegal errichtete Anbau sowie der städtebauliche Zustand des gesamten Umfeldes sind ein öffentliches Ärgernis und ein Gefahrenpunkt nicht nur für Kinder.“ 17 Jahre später hat sich daran nichts geändert.
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