Der Schrei des Tieres ist herzzerreißend. Laut ruft das Rehkitz nach seiner Mutter, als Karl Borgschulze es mit dicken Grasbüscheln in den Händen aufhebt und an den Rand der Wiese bringt. Immer wieder dringen panische Laute aus der erst ein paar Tage alten Kehle und schallen über die etwas abgelegene Wiese in Langern. Was das kleine Tier nicht weiß: Der Jäger will ihm nur helfen. „Wenn wir das Rehkitz nicht gefunden hätten, wäre es gleich tot gewesen“, sagt Jagdpächter Hubertus Hols, der ebenfalls bei der Rettungsaktion in Lenklar dabei ist.
Die Monate Mai und Juni sind die Hauptsetzzeit für Rehwild: Da werden besonders viele Rehkitze geboren. Meistens geschieht das im Schutz des hohen Grases. Dort liegen die Kitze dann auch die ersten Wochen - allein. Ihre Mutter kommt nur regelmäßig zum Säugen vorbei.
Wenn dann allerdings die Mahd beginnt, kann das Versteck im Feld schnell zur Todesfalle werden. Die kleinen Kitze haben noch keinen Fluchtinstinkt. Das heißt: Selbst wenn sich ihnen ein großer, lauter Trecker mit Mähvorrichtung nähert, schnellen sie nicht weg. Sie bleiben einfach wehrlos liegen. Für die Landwirte sind die kleinen, liegenden Tiere in ihren Verstecken im hohen Gras so gut wie nicht sichtbar. Nicht selten kommt es vor, dass die jungen Tiere ins Schneidwerk geraten - ihr sicherer Tod. Jedes Jahr sterben rund 90.000 Rehkitze bei der Mahd, so schätzt es die Deutsche Wildtier-Stiftung.
Landwirte und Jäger müssen zwar vor jeder Mahd nach Kitzen auf den Feldern suchen - das ist aber ziemlich schwierig. Zumindest, wenn nicht - so wie jetzt in Langern - eine Drohne dabei hilft.
Drohne fliegt Felder ab
Martin Möller hat das High-Tech-Gerät mitgebracht. Er ist Drohnenpilot. Ein Hobby für den Berufsfeuerwehrmann im Ruhestand. Aber eines, mit dem er auch Gutes tun möchte - Rehkitze retten. Zusammen mit seiner Frau Heike unterstützt er seit diesem Jahr Jäger und Landwirte in der Region, lässt seine Drohne unmittelbar vor der Mahd über Wiesen und Felder in Selm, Werne und Lünen fliegen.
Eine Infrarotkamera erkennt auf einer Höhe von circa 50 Metern Wärmepunkte im Feld - als kleine rote Punkte werden solche auf dem Bildschirm sichtbar, den Heike und Martin Möller während der Fahrten angestrengt betrachten. Wie präzise und genau das ist, zeigt sich ganz zu Beginn der Suchaktion. Der erste rote Wärmepunkt, der deutlich auf dem Bildschirm zu sehen ist, stellt sich beim Tiefflug nicht als Tier heraus - sondern als frischer Kuhfladen.

„Ungefähr so groß ist aber auch die Fläche, auf der ein Rehkitz liegt“, sagt Martin Möller lachend, bevor er seine Drohne wieder surrend höher steigen und weiter suchen lässt. Eine rund vier Hektar große Wiese überfliegt das Gerät in rund zehn Minuten. „Aber wenn wir etwas finden, dann dauert es natürlich länger“, erklärt er. Am Montag ist das mehrfach der Fall. „Da sind gleich zwei Kitze“, sagt Heike Müller und deutet auf den Bildschirm, der beim Tieferfliegen der Drohne die Sicht auf die Umrisse von zwei kleinen Rehen freigibt.
Vergrämen auch wichtig
Mit Körben machen sich Karl Borgschulze und Hubertus Hols auf zu der Stelle, die die Drohne überschwebt. Kurz bevor sie die Tiere erreichen, schrecken diese aber hoch und rennen weg. „Sie waren wohl schon ein paar Wochen alt und nicht gerade erst geboren“, erklärt Karl Borgschulze. Auch das „Vergrämen“ - das ist Jägersprache für „Vertreiben“ - ist wichtig vor der Mahd.
Das nächste Kitz, das Martin und Heike Möller mit Hilfe der Drohne etwas weiter am anderen Rand der Wiese finden, ist jünger als die anderen zwei. Auch als die Menschen sich nähern und vor ihm stehen, bleibt es ruhig liegen, rührt sich nicht. Erst, als Karl Borgschulze ansetzt, es zu packen, macht es einen kleinen Satz. Der Jäger bekommt es aber mit einem Hechtsprung zu packen. „Wie Boris Becker in den besten Zeiten“, scherzt Martin Möller, der das über die Drohnenkamera alles vom Startpunkt der Drohne aus aus beobachtet.
Karl Borgschulze trägt das Tier in Grasbüscheln an den Rand der Wiese unter einen Baum - dorthin, wo nicht gemäht werden wird. Er legt es unter einen Korb, damit es nicht weglaufen kann. Es dauert nicht lange, bis das kleine Kitz mit dem Schreien aufhört und zur Ruhe kommt. Wenn die Wiese fertig gemäht ist, kommt der Jäger dann zurück und trägt das Tier wieder auf die Wiese - sodass die Ricke ihr Junges gut - und vor allem noch lebend - wiederfinden kann.
Korb zum Schutz
Die Drohnenflüge müssen im Mai und Juni immer sehr früh morgens stattfinden - wenn der Boden noch kalt ist und die Infrarotkamera warme Stellen wie Rehkitze im Kontrast gut ausmachen kann. Gerade, wenn Wohnbebauung in der Nähe ist, wundern sich schon manche über die Drohne, sagt Martin Möller. „Mir ist wichtig, dass die Bevölkerung einschätzen kann, was wir hier machen“, sagt er. Es sei auch schon vorgekommen, dass Spaziergänger die Kitze aus den Körben befreit hätten - auch das sollte man nicht machen. Wenn die Mahd vorbei ist, werden die Rehe ja wieder zurückgesetzt. Der Korb sei nur zu ihrem Schutz.
Bei 90 Prozent, so erklärt Martin Möller weiter, liegt die Chance, die Kitze durch die Drohne auf den Wiesen zu finden. Ohne das technische Hilfsmittel in der Luft sind die Chancen deutlich geringer - liegen vielleicht bei 40 Prozent. Pinne mit in der Luft wehenden Tüten oder Fahnen dran werden sonst vor der Mahd im Feld oder auf der Wiese aufgestellt. „Dann weiß die Ricke, dass etwas anders ist und legt ihr Kitz gar nicht erst dort ab“, erklärt Jagdpächter Herbert Tilmann, während Martin Möller, der schon wieder ein Stück weiter gezogen ist, die Wiese gegenüber von dessen Haus abfliegt. Mit Hunden könne man das Feld auch absuchen, erklärt der langjährige Jäger. Aber da die Rehkitze nach der Geburt keinen Geruch haben, können die Hunde sie nicht riechen. „Die stoßen dann höchstens zufällig auf die Tiere“, erklärt er. Und wie sie dann reagieren, wisse man auch nicht.
Gerade deshalb sei es so gut, dass es jetzt die Drohnentechnik gibt. „In dieser Saison haben wir insgesamt schon so 250 Hektar überflogen“, sagt Martin Möller. Rund 20 Kitze seien in Körben von dem Tod bei der Mahd geschützt worden. Kontakt zu dem Drohnenpiloten ist über die Kreisjägerschaft möglich.
Jäger retteten schon jetzt mehr Rehkitze als letztes Jahr: Hegering mit dringender Warnung
Rehkitz-Rettung in Selm und Olfen: „Man muss schon fast zufällig drauf treten“