Seit mehr als 30 Jahren ist Dr. Antje Münzenmaier Ärztin. Die meiste Zeit davon Hausärztin in Selm. Da ist ihr nahezu nichts Menschliches mehr fremd. Eines aber doch: der assistierte Suizid. So lautet in der Fachsprache die Hilfe bei Selbsttötung. Sie ist zwar nicht illegal, aber auch nicht gesetzlich geregelt: eine Grauzone.
Das wird sie vorerst auch bleiben, nachdem im Juli zwei Gesetzesinitiativen im Bundestag gescheitert waren. Stillstand sei aber keine Lösung, sagt Antje Münzenmaier: weder für Ärztinnen und Ärzte in Gewissensnöten, noch für Sterbewillige und ihre Angehörigen. „Wir müssen viel mehr reden und besser über Alternativen informieren“, fordert die Medizinerin, die zugleich Vorsitzende der Hospizgruppe Selm-Olfen-Nordkirchen ist, und macht dazu auch gleich ein konkretes Angebot, das so in der Region noch Seltenheitswert hat.
„Hospizlich-palliativmedizinische Begleitung versus assistierter Suizid“ lautet der etwas sperrige Titel einer Podiumsdiskussion, zu der der Hospizverein für Mittwoch (4. 10.) ins Bürgerhaus Selm einlädt. Mit dabei neben Dr. Boris Hait, dem Chef der Palliativmedizinischen Abteilung des Krankenhauses Unna, die Hessische Notfall-Seelsorgerin und Autorin Heinke Geiter, der Hamburger Fachanwalt für Medizinrecht, Hochschullehrer und Autor („Keiner stirbt für sich allein“) Dr. Oliver Tolmein und Dr. Antje Münzenmaier selbst. Während der Veranstaltung, zu der der Eintritt frei ist (Spenden für die Ukraine-Hilfe in Unna und die Hospizarbeit in Selm, Olfen, Nordkirchen sind willkommen), wird sie auch auf ein Gespräch zurückblicken, das sie mitten in das aktuelle Dilemma führte.
Bis zur palliativen Sedierung
„Geben Sie mir etwas, um das zu beenden.“ Nicht wenige Menschen würden solche Todeswünsche äußern, wenn das eigene Sterben unausweichlich erscheint. „Sie wissen in der Regel nicht, was die Palliativmedizin inzwischen alles leisten kann“, sagt Münzenmaier. Es gehe darum, die letzten Monate, Wochen und Tage mit einer möglichst hohen Lebensqualität und ohne unnötiges Leid erleben zu können. Bei den meisten schwerstkranken Patienten, so die 65-Jährige, ließen sich Schmerzen und Luftnot mit Hilfe der Palliativmedizin medikamentös in den Griff bekommen. Notfalls - etwa angesichts massiver Angst vor dem Ersticken - gebe es die Möglichkeit der palliativen Sedierung: die Verabreichung beruhigender Medikamente, die das Bewusstsein dämpfen oder ausschalten. „Hilfe zur Selbsttötung ist etwas anderes. Aber genau die wünschte sich vor einigen Jahren eine Patientin von ihr. Immer wieder. Was tun?

Für die Selmer Ärztin, die sich selbst als „Christin, wenn auch keine treue Kirchgängerin“ bezeichnet, war das Anlass für eine Gewissensbefragung. Die Entscheidung sei ihr aber abgenommen worden. „Die Patientin verstarb im Krankenhaus.“ Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes 2020 ist der assistierte Suizid durch Ärztinnen und Ärzte theoretisch legal. „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“, heißt es in dem Urteil unter anderem. Aber auch: „Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.“ Die höchsten Richter des Landes hatten damit den umstrittenen Paragrafen 217 des Strafgesetzbuches, der ärztliche Suizidhilfe kriminalisierte, für nichtig erklärt.
Warnung des Gerichts
Kurz darauf hatte auch der Deutsche Ärztetag entschieden, das Verbot des ärztlich assistierten Suizids aus der Berufsordnung zu streichen. Eine Entscheidung darüber getroffen, wie die grundsätzlich dem Leben verpflichteten Ärztinnen und Ärzte denn nun ihre künftige Rolle im Umgang mit der Suizidhilfe definieren, steht indes noch aus. Eine gesetzliche Regelung, die laut Bundesverfassungsgericht „verhindert, dass sich der assistierte Suizid in der Gesellschaft als normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt“, fehlt ebenfalls seit dreieinhalb Jahren. Wann der Bundestag dazu einen neuen Anlauf wagt, nachdem die beiden Gesetzesentwürfe in diesem Juli gescheitert waren, ist noch offen.
Das sagen die Kirchen
Ärztinnen und Ärzte wie Antje Münzenmaier sind so lange alleingelassen in der Frage, wie sie antworten sollen auf die Frage nach assistiertem Suizid. Die Kirchen geben ihnen keine einheitliche Entscheidungshilfe: Während die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) für einen Rechtsrahmen plädiert, um Suizidbeihilfe in Härtefällen zu ermöglichen, spricht sich Deutsche Bischofskonferenz der katholischen Kirche „nachdrücklich gegen alle Formen der aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung aus“. Die Kirchenleitungen reichen das Problem an die Altenheime weiter. „Kirchliche und Einrichtungen der Caritas sind Hüter des Lebens vom ersten bis zum letzten Atemzug“, sagte etwa der katholische Passauer Bischof Oster. Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der evangelischen Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, räumte indes gegenüber dem evangelischen Pressedienst ein, es gebe bislang keine einheitliche Praxis. Man versuche, „eine Haltung zu entwickeln“. Die hat Heinke Geiter bereits.
Geiter: Dürfen schuldig werden
„Christinnen und Christen dürfen um des anderen Willen schuldig werden und dann auf Vergebung hoffen“, sagt die evangelische Theologin, die in Selm mit Antje Münzenmaier und den anderen Gästen über Suizidhilfe und Palliativmedizin diskutieren wird. Über den assistierten Suizid lasse sich nur individuell entscheiden. „Eine Formalisierung ist nicht das, was wir brauchen.“ Keine Regelung wie zurzeit sei aber auch keine Lösung. Immerhin: Eine Entscheidung hatte der Bundestag im Juli doch getroffen. Und die kommt bei Antje Münzenmaier und Heike Geiter gleichermaßen gut an.
Der Staat will mehr tun, um Suizid - egal, von wem, wann und wo - vorzubeugen: durch mehr Beratungsangebote und den Ausbau von Hilfen im Alter sowie palliativer und hospizlicher Angebote. „Vieles gibt es dazu schon“, sagt die Selmer Hausärztin, „nur ist das oft nicht bekannt“. Daher müsse mehr geredet werden - zum Beispiel am 4. Oktober ab 18.30 Uhr im Bürgerhaus Selm am Willy-Brandt-Platz.

Hier gibt es Hilfe bei Suizid-Gedanken
Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der anonymen Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.
- Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 www.telefonseelsorge.de
- Kontakt zur Hospizgruppe Selm-Olfen-Nordkirchen besteht unter Tel. (02592) 97 86 156, und in der Geschäftsstelle Kreisstraße 51 in Selm (dienstags bis freitags, 10 bis 12 Uhr, sowie dienstags und donnerstags, 15 bis 17 Uhr).
Der letzte Wohnort: Paula Eisenblätter (99) blickt im Lüner Hospiz zurück auf ihr Leben
Mit der Fahrrad-Rikscha durch die Lüner Innenstadt: Albrecht Warnecke will Freude schenken
„Es wird auch hier weniger Ärzte geben“: Jeder dritte Hausarzt in Selm über 60 Jahre alt