Paula Eisenblätter (99) sitzt in einem großen grünen Sessel. In dem Zimmer, in dem sie wahrscheinlich sterben wird. Seit Anfang August lebt sie in dem Hospiz am Wallgang in Lünen. Im Januar 2024 würde sie 100 Jahre alt werden. „Mir geht es so ganz gut, außer meinem Bein. Weil ich da zwei Wunden habe“, sagt sie.
Ihre Tochter Inge Reinert (74) besucht sie täglich. „Wir gehen jeden Nachmittag Eis essen und machen einen Spaziergang“, sagt Inge Reinert. Der Grund, warum ihre Mutter im Hospiz ist, wird auf den ersten Blick gar nicht ersichtlich. Das liegt an einer Blutübertragung, die sie kurz vor ihrem Einzug ins Hospiz bekommen hat. „Ihr Knochenmark bildet kein Blut mehr. Wegen der Blutübertragung ist sie gut drauf, aber wenn das verbraucht ist...“ Ihre Tochter führt den Satz nicht zu Ende. Es ist aber klar, was sie meint. Ohne regelmäßige Blutübertragungen wird Paula Eisenblätter an ihrer Erkrankung sterben. Wie lange ihr noch bleibt, könnten die Ärzte nicht sagen.

Raus in die weite Welt
Wenn sie darüber nachdenkt, wie sie so alt werden konnte, sagt Paula Eisenblätter: „Mit viel Humor. Ich habe viel gelacht.“ Lieber als über den Tod spricht sie über das Leben, das hinter ihr liegt.
Aufgewachsen ist sie in Südkirchen, ihre Eltern betrieben Landwirtschaft. „Wir hatten ein Pferd, ein Pony, zwei Kühe, ein paar Schweine und Zwerghühner.“ Dazu wurden Felder mit Getreide bewirtschaftet. Für den Verkauf und den Eigenbedarf. Das war aber nichts für sie. Auf dem Land geboren, fühlte sie sich dort nie wirklich wohl. „Ich wollte in die Stadt und etwas von der Welt sehen.“
Der Wunsch wurde ihr erfüllt. Gesetz der Anziehung könnte man sagen. Mit 15 Jahren sei sie von Zuhause weggegangen, in einem Internat in Lüdinghausen arbeitete sie in der Küche. 1942 ging es weiter nach Düsseldorf. Eine Großstadt, so wie sie es wollte. Eine Köchin im Internat habe ihr eine Stelle als Zofe bei einer Baronin organisiert. Fortan war sie die persönliche Angestellte in einer Adelsfamilie. In Deutschland tobte der Krieg - trotzdem bezeichnet sie ihren Aufenthalt in Düsseldorf als „die schönste Zeit meines Lebens“. Sie sei dort wie die eigene Tochter behandelt worden und genoss großes Vertrauen. Leider, sagt sie, sei sie nur ein Jahr dort gewesen. Die Familie kaufte sich ein Schloss in Niederbayern und zog um.
Paula Eisenblätter musste wieder nach Hause zu ihrer Mutter, stand mit der Baronin aber stets im Briefverkehr. Die Briefe habe sie noch immer Zuhause aufbewahrt. Zurück auf dem Land musste sie hart arbeiten und ihrer Mutter im Hof-Alltag helfen. „Wir haben alles selbst gemacht. Um halb fünf standen wir auf und haben bis 22 Uhr gearbeitet.“
Ihr Vater und ihre drei Brüder waren währenddessen im Krieg. Einer der Brüder starb im Alter von nur 18 Jahren in Russland und wurde dort beerdigt. An den Krieg mit all seinen Grausamkeiten kann sie sich gut erinnern. Eine Erfahrung brannte sich besonders ein. „Im Sommer hatte ich nachts das Fenster auf und hörte, wie jemand einen Namen rief. Irgendwann hörte ich dann nur noch Schüsse fallen. Sie haben ihn an die Wand gestellt und erschossen.“

Partnerwahl: „Ein Theater, ohje“
Als der zweite Weltkrieg 1945 ein Ende fand, hatte Paula Eisenblätter noch ihr ganzes Leben vor sich. Sie war gerade erst 21 geworden und lernte wenig später in einem Krankenhaus in Marl ihren Mann Karl-Heinz kennen. Der kam gerade aus dem Krieg, hatte einen Steckschuss in der Lunge und Splitter in den Augen. Die beiden frisch Verliebten hatten aber ein Problem. Ihr Vater wollte die Beziehung nicht, war skeptisch, weil ihr Auserwählter nur wenig Geld hatte. Stattdessen sollte sie den Sohn einer Freundin der Baronin heiraten. „Aber der hatte so viele Pickel im Gesicht. Den wollte ich nicht“, scherzt die 99-Jährige und zeigt dabei ein jugendliches Lächeln. Irgendwann musste ihr Vater kleinbeigeben, Karl-Heinz als seinen Schwiegersohn akzeptieren. „Das war ein Theater, ohje. Aber ich habe ein Machtwort gesprochen und mich durchgesetzt.“ Früher sei es nun mal so gewesen, dass nur die Männer etwas zu sagen hatten.
Mit 24 Jahren hat sie geheiratet, ein Jahr später wurde ihre einzige Tochter geboren. Ihr Mann ging auf die Zeche, verdiente dort gutes Geld und konnte die Familie alleine versorgen. 1980 zogen die Eltern mit ihrer inzwischen erwachsenen Tochter wieder zusammen, bauten gemeinsam ein Haus in Werne. Der Gesundheitszustand von Karl-Heinz Eisenblätter verschlechterte sich zunehmend, er hatte zwei Lungenembolien und starb 2003.
Nun wohnt auch Paula Eisenblätter an der letzten Adresse ihres Lebens. Ihre Tochter nennt das Hospiz eine „Oase des Glücks“, in der alle nett und zuvorkommend sind. So auch Pfleger Phil Klein (17), der in dem Hospiz eine Ausbildung macht und überrascht war, als er Paula Eisenblätter zum ersten Mal sah. „Als ich gehört habe, dass wir eine 99-Jährige bekommen, dachte ich, sie wäre bettlägerig und dement. Das ist im Hospiz üblich.“ Paula Eisenblätters Krankheit sei unheilbar, ihr Tod unausweichlich. „Aber bis dahin freuen wir uns über ihre Gesellschaft.“
Ein Hospiz bietet seinen Bewohnern eine Sterbebegleitung. Die Menschen in einem Hospiz sind unheilbar krank und verbringen dort ihren Lebensabend. Manche leben dort nur wenige Tage, andere sogar Monate oder Jahre. Das Hospiz am Wallgang in Lünen ist spendenfinanziert. Zurzeit leben dort 14 Personen.
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