Bis zu seinem letztem Arbeitstag erledigt Pfarrer Lothar Sonntag gewissenhaft seine Pflichten in der evangelischen Kirchengemeinde Selm. Er wird Selm verlassen.

© Arndt Brede

Pfarrer Lothar Sonntag verlässt Selm: „Ich werde die Begegnungen vermissen“

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Seit 2003 ist Lothar Sonntag Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Selm. Nun geht er in den Ruhestand. Über den Abschied spricht er im Interview.

Selm

, 16.12.2021, 11:30 Uhr / Lesedauer: 4 min

Die evangelische Kirchengemeinde Selm muss ab dem 18. Dezember ohne Pfarrer Lothar Sonntag auskommen. Warum das so ist, was das mit dem Pfarrer selber macht und wie seine Zukunft aussieht, hat er im Interview verraten.

? Herr Sonntag, ab wann sind Sie nicht mehr Gemeindepfarrer in Selm?

Ich gehe zum 1. Januar 2022 in den Vorruhestand - ich werde im Januar 64 Jahre alt. Und weil ich noch einige Tage Resturlaub habe, bin ich nur noch bis zum 17. Dezember im Dienst.

? Sind Sie bereits verabschiedet worden?

Ja, am zweiten Advent hat mich die Kirchengemeinde, wegen Corona im kleinen Kreis, verabschiedet. Und ich bin im Gottesdienst entpflichtet worden, durch Superintendent Michael Stache.

? Sie sind 1958 in Dortmund geboren, in Brechten aufgewachsen, haben das Abitur am Dortmunder Einstein-Gymnasium gemacht. Wann haben Sie den Entschluss gefasst, Pfarrer zu werden?

Ich hatte bereits einen Studienplatz für Mathematik und Informatik zugewiesen bekommen. Aber dann habe ich doch mit dem Zivildienst beginnen können, bei der Evangelischen Studentengemeinde in Bochum. Und dort bin ich auf den Gedanken gekommen, dass ich lieber Theologie studieren möchte.

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? Warum?

Wegen der Leute, die da waren, vor allem den beiden damaligen Studentenpfarrern.

? Also kam nach der Zivildienstzeit das Studium der evangelischen Theologie. Gleich mit dem Ziel, Pfarrer zu werden?

Ja.

? Das ist ja schon ein Sprung von Mathematik und Informatik zu solch einem Studium.

Das ist ein großer Schritt. Ich fand den Beruf faszinierend, auch weil er so viel mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun hat. Und weil die, die ihn ausübten, etwas taten, hinter dem sie standen. Das hat viel mit der Frage nach Gerechtigkeit, nach Frieden, nach der Bewahrung der Schöpfung zu tun. Sich stark zu machen für Schwache und Benachteiligte: Das habe ich in der Evangelischen Studentengemeinde erlebt.

? Und das hat Sie geprägt.

Gott sei Dank, ja. Ich sage immer, dass ich dort missioniert und politisiert worden bin.

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? Sie haben dann in Bochum studiert.

Und ich habe dort auch einige Jahre gewohnt.

? Nach dem kirchlichen Examen kam dann ja die Realität des Berufs.

Da kam zunächst das Vikariat, also die zweite Ausbildungsphase. Ich war gut zwei Jahre in Dortmund an der Petrikirche. Und dann habe ich ein Sondervikariat beim Sozialamt der Evangelischen Kirche von Westfalen gemacht, in Villigst. Fragen der Arbeitswelt, der Arbeitnehmer, aber auch der Menschen ohne Arbeit waren da unter anderem die Themen.

? Und nach dem Vikariat?

Wurde ich als Pastor im Entsendungsdienst eingesetzt. Und zwar in der Luther-Gemeinde am Borsigplatz in Dortmund. Dort war ich mehr als 16 Jahre. 2003 bin ich dann nach Selm gekommen. Hier war eine Pfarrstelle frei, ich habe mich darauf beworben und bin dann in meine erste Pfarrstelle gewählt worden.

? Wie hat sich die evangelische Kirchengemeinde Selm seit 2003 entwickelt?

Die Zahl der Gemeindeglieder ist im Laufe der Zeit nicht all zu sehr zurückgegangen. Momentan gehören zur Gemeinde rund 7000 Gemeindeglieder. Selm war über viele Jahre die einzige Zuzugsgemeinde im Bereich der Dortmunder Kirchenkreise. Sie hatte also Zuwachs durch Menschen, die hierhin zogen. Hier war das Wohnen grüner und günstiger als in Lünen oder in Dortmund. Davon profitierte Selm, ähnlich wie jetzt seit drei, vier Jahren wieder.

Nachfolge steht fest

  • Die Stelle des scheidenden Pfarrers Lothar Sonntag wird neu besetzt.
  • Nachfolgerin Sonntags wird Pfarrerin Katrin Hirschberg-Sonnemann.
  • Sie wird voraussichtlich zum 1. Februar 2022 ihren Dienst in Selm antreten.
  • Katrin Hirschberg-Sonnemann ist seit April 2017 Pfarrerin der Evangelischen Auferstehungskirchengemeinde Hagen mit 75 Prozent Dienstumfang und zuständig für alle pastoralen Aufgaben. Sie ist auch Vorsitzende des Presbyteriums.

? Wie haben sich die Rahmenbedingungen verändert?

Anfangs gab es drei Pfarrstellen plus eine zusätzliche Stelle für einen Pfarrer im Entsendungsdienst. Jetzt haben wir zwei besetzte Pfarrstellen (zum Zeitpunkt des Interviews Pfarrerin Antje Wischmeyer und Pfarrer Lothar Sonntag, Anm. d. Red.). Als wir nur noch zu dritt waren, haben die Pfarrerinnen und Pfarrer mehr oder weniger die gleiche Arbeit zu machen versucht wie zuvor zu viert. Aber als wir nur noch zu zweit waren, ging das nicht mehr. Das Pfarrteam hat manches sein gelassen. Und manches neu unter sich aufgeteilt. So wurde zum Beispiel der Konfirmandenunterricht, der zuvor schon von einem großen Team von Ehrenamtlichen mitgetragen wurde, nur noch von einer Pfarrerin verantwortet.

? In einer nicht so günstigen Situation - nämlich der personellen Verschlankung bei den hauptamtlichen Stellen - hat die Kirchengemeinde eine Chance ergriffen, nämlich mehr Menschen in die tatsächliche Gemeindearbeit einzubinden.

Ja, das war eine spannende Sache, mit einem neuen Konfi-Modell so viele interessierte Laien - Presbyterinnen und Presbyter, Konfirmanden-Eltern, ehemalige Konfis - in die Arbeit einzubinden. In Selm gibt es viele Menschen, die bereit sind, sich ehrenamtlich zu engagieren, auch in unserer Kirchengemeinde.

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? Für viele Menschen ist Kirche Bezugspunkt. Ein Anker, wo sie Hilfe bekommen, die sie vielleicht woanders nicht bekommen. Ist das immer noch so?

Ich denke ja, auch, wenn sich vieles geändert hat. Selm war ja nach der Schließung der Zeche Hermann viele, viele Jahre bitterarm, eine sogenannte Notstandsgemeinde. Und die evangelische Kirchengemeinde hat versucht, nah bei den Menschen zu sein, ihnen zu helfen. Mit Suppenküchen früher, mit der Tafelausgabe im evangelischen Gemeindezentrum am Markt heute. Die Gemeinde hatte und hat, auch dank Pfarrer Sanß und Pfarrer Lengemann, ein starkes sozial-diakonisches Profil. Noch heute beschäftigt sie einen Sozialarbeiter, wenn auch mit weniger Wochenstunden als noch vor 15 Jahren.

? Wie wird die Zukunft der evangelischen Kirchengemeinde Selm aussehen?

So wie in der Evangelischen Kirche in Westfalen und in ganz Deutschland überhaupt: Mit weniger Mitgliedern, auch aufgrund der demographischen Entwicklung. Mit weniger Geld aus Kirchensteuern. Und mit vielen Menschen, die voller Phantasie und Freude neue Wege und Formen des Gemeindelebens ausprobieren werden.

? Wie sieht es mit Ihrer persönlichen Zukunft aus? Werden Sie in Selm wohnen bleiben?

Nein, meine Frau und ich ziehen nach Ahaus.

? Was werden Sie aus Ihrer Zeit in Selm vermissen?

Die vielen Begegnungen und Gespräche mit Menschen, auch die eher zufälligen, auf der Straße, im Supermarkt, beim Arzt. Ich habe gern in Selm gearbeitet, und das wäre ohne meine Familie so nicht möglich gewesen. Aber seit einigen Tagen bin ich merklich erleichtert, demnächst weniger Verantwortung tragen zu müssen.