Wer zurzeit die politischen Sitzungen der Ausschüsse oder des Rates der Stadt Selm erlebt, dem wird eines auffallen: Die Grünen fehlen. Christina Grave-Leismann ist von ihrem Amt als Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen zurückgetreten und hat mittlerweile ihr Ratsmandat abgegeben. Die Grünen haben auch keine sachkundigen Bürger mehr in den Ausschüssen. Zudem bildeten die einstigen Fraktionsmitglieder Marion Küpper und Natalie Stefanski eine eigene Fraktion. Somit herrscht so etwas wie ein grünes Politvakuum: Niemand mehr da, der öffentlich in politischen Sitzungen die Positionen der Grünen vertritt.
Die Zeit läuft. Nur noch etwas mehr als ein halbes Jahr - und dann ist Kommunalwahl. So langsam müssten sich die Grünen entscheiden, ob sie das Ratsmandat, das Christina Grave-Leismann hinterlassen hat, wieder aus den eigenen Reihen besetzen. Das dürfte wichtig sein, wenn die Grünen bei der Kommunalwahl 2025 eine Rolle spielen möchten.

Die Entwicklung der Grünen der letzten Jahre ist ein Auf und Ab. Bei der Kommunalwahl 2014 in Selm holte die Partei dank 6,76 Prozent der Stimmen zwei Ratsmandate. 2020 waren es durch die Wählerstimmen von 10,30 Prozent drei Mandate. Die Europawahl 2019 bescherte den Grünen einen Höhenflug. In Selm fuhren sie 19,17 Prozent ein. Bei der Europawahl 2024 sanken sie in Selm in der Wählergunst auf 9,15 Prozent. Das Selmer Zweitstimmenergebnis bei der Landtagswahl 2022 lag bei 13,21 Prozent. Ganz aktuell liegt das Zweitstimmenergebnis der Grünen in Selm bei der Bundestagswahl bei 8,36 Prozent.
Nun basieren Ergebnisse bei Europa- und Landtagswahlen nicht unbedingt auf der Qualität der lokalen Politik-Arbeit. Aber ganz auszuschließen ist es nicht, dass sich das, was lokal passiert, zumindest zum Teil auch in Landtags- und Europawahl-Ergebnissen spiegelt. Genau so, wie umgekehrt die politische Arbeit im Bund durchaus auch Einfluss auf das Abschneiden bei Kommunalwahlen haben kann.
In inoffizieller Fraktion formiert
Für Bündnis 90/Die Grünen in Selm dürfte es wichtig sein, wie sichtbar sie sind. Auf Anfrage der Redaktion erklärt Ortsverbandssprecher Ingmar Leismann: „Ich bin über die Reserveliste nachgerückt und werde im Zuge der Neuausrichtung unserer Fraktion das Mandat im Stadtrat übernehmen. Mein Antwortschreiben hierzu hat die Stadtverwaltung in dieser Woche erhalten, sodass ich nun offiziell Ratsmitglied bin und in der nächsten Ratssitzung am 20. März mit meiner Verpflichtung rechne. Christina Grave-Leismann ist weiterhin ein engagiertes Mitglied bei uns und vertritt unsere Interessen unter anderem im Kreistag in Unna.“
Da die Grünen bis zur Kommunalwahl im September keinen Fraktionsstatus haben, können sie offiziell keine sachkundigen Bürger für die Ausschüsse stellen. „Dennoch haben wir uns in einer inoffiziellen Fraktion neu formiert“, erklärt Leismann. „Das heißt, wir sitzen in allen Ausschüssen als Besucher, um die Ratsarbeit gemeinsam vor- und nachzubereiten. In unserem neuen Team können wir langjährige Ratserfahrung und neue motivierte Mitglieder mit viel Sachverstand vereinen, weshalb ich mich auf die zukünftige Zusammenarbeit sehr freue.“

Sichtbarer werden im Rat und im Netz
Und die Grünen wollen wieder sichtbarer sein: „Vorrangig werden wir im Rat präsent sein, mit Anträgen und Ideen. Wir arbeiten aber auch an unserer Social-Media-Präsenz (Instagram - gruene_selm), betreiben einen Blog (gruene-selm.de) und einen Newsletter. Zudem haben wir uns einige Aktionen überlegt, um auf uns aufmerksam zu machen, hier will ich aber noch nicht zu viel verraten.“
Befürchten die Grünen, dass sie durch das Mandatsvakuum und den Bruch der Ratsfraktion Schaden im Ansehen der Selmer Bürgerinnen und Bürger genommen haben? Ingmar Leismann hat da eine klare Haltung: „Im Gegenteil. Nach dem Austritt von Christina Grave-Leismann aus der ehemaligen Fraktion mit Frau Küpper und Frau Stefanski hat sie für diesen Schritt viel Zuspruch aus den Reihen der Selmer Bürger und auch aus den anderen Ratsfraktionen bekommen. Es war moralisch geboten, die Fraktion zu verlassen, um unseren Wählern und dem, wofür wir als Grüne stehen, treu zu bleiben. Problematisch war eher, dass einigen Bürgern nicht ganz klar geworden ist, dass der Bruch der Fraktion keinesfalls bedeutet, dass sich auch die Selmer Grünen aufgelöst haben. Wichtig ist, hier immer zwischen der Fraktion im Rat und der Partei zu unterscheiden.“
Deshalb wolle er es noch einmal ganz klar sagen: „Es gibt die Grünen in Selm noch und wenn Sie mich fragen, sind wir stärker als je zuvor. Ich werde als Grüner im Rat sitzen und wir werden als Partei weiterhin Ideen einbringen - auch wenn es keine Fraktion mit dem Partei-Namen mehr gibt. Das Wichtigste an der Sache: Wir konnten einen Schlussstrich unter die Probleme der letzten Jahre/Monate ziehen und stehen jetzt vor einem Neustart. Und der läuft aktuell wirklich gut. Seit der Auflösung der Fraktion konnten wir bereits einige neue, aktive Mitglieder und weitere Interessierte gewinnen und blicken sehr positiv in die Zukunft.“
Positive Entwicklung bei Mitgliedern
Auf die Frage der Redaktion, wie er die Chancen der Grünen bei den Kommunalwahlen in Selm im September einschätzt, antwortet Ingmar Leismann: „Für den Bürgermeister- oder -meisterinnen-Posten wird es wohl nicht reichen, da machen wir uns nichts vor. Aber ich bin sicher, dass die Ergebnisse und der Verlauf der Bundestagswahl noch einmal viele Menschen wachgerüttelt haben.“
Auch die Grünen seien über das Erstarken der AfD in Selm sehr erschrocken - ganz unerwartet sei es aber nicht gekommen. „Uns hat die Wahl noch einmal deutlich gezeigt: Gerade vor Ort braucht es neue Ideen. Wir wollen Themen setzen, die die Menschen wirklich beschäftigen und ihnen Hoffnung geben - statt dem hinterherzulaufen, was von rechts kommt. Das heißt konkret: Wir widmen uns mit unserem neuen Team Themen wie Klimaschutz und -anpassung vor Ort, kommunaler Wärmeplanung, guter Kitabetreuung und sozialer Gerechtigkeit. Wir wollen ins Gespräch mit den Selmern und Selmerinnen kommen und ihnen klarmachen, dass wir ganz konkret vor Ort etwas für sie bewegen wollen und können - und dass Kommunalpolitik wenig mit dem zu tun hat, was in Berlin passiert.“
Ein kleiner Trost sei, dass die Grünen in Selm von allen Ampelparteien die wenigsten Stimmen verloren haben. „2021 waren es knapp 11,3 Prozent, jetzt waren es 8,4 Prozent. SPD und FDP haben deutlich mehr Stimmen eingebüßt. Es gibt also einen ‚treuen‘ grünen Wählerstamm, auf dem wir aufbauen können.“
Positiv sei die Mitgliederentwicklung: „Seit Wahlkampfbeginn haben wir sechs neue aktive Mitglieder gewonnen - also Leute, die zum Beispiel bei den Wahlkämpfen mithelfen und für die Ausschüsse bereitstehen. Das Engagement in der Runde habe auch das mäßige Ergebnis der Bundestagswahl nicht geändert - im Gegenteil.“ Das Motto „Jetzt erst recht“ beschreibe die Stimmung gerade ganz gut. „Trotzdem können wir Unterstützung nach wie vor gut gebrauchen: Wer sich also angesichts der politischen Lage auch weniger hilflos fühlen will, dem raten wir dringend, sich aktiv in der Selmer Kommunalpolitik zu engagieren. Wer möchte, kann ganz unverbindlich zu einer unserer Sitzungen kommen und uns - auch ohne Parteibeitritt - unterstützen“, Ingmar Leismann.