Der kleine Apfelbaum ganz hinten im Garten auf der Stadtgrenze zwischen Lünen und Werne hat es nicht leicht. So krumm und knorrig, wie er da steht. Stürme haben immer wieder an ihm gerüttelt. Trockenheit hat ihm zugesetzt. Und aktuell fressen sich die kleinen Raupen der Gespinstmotte zu Hunderten an seinen frischen Blättern satt: alles Bedrohungen, die er seit Jahren kennt. Damit kommt er zurecht. Aber was ist mit diesen gelben Verkrustungen auf Stamm und Ästen?
Ein Mischwesen: weder Tier noch Pflanze
Was aussieht wie Schwefelausblühungen, ist keinesfalls mineralisch. Aber auch nicht tierisch oder pflanzlich. „Das sind Flechten“, stellt Dr. Götz Loos vor. Genau genommen: Gewöhnliche Gelbflechten, Xanthoria parietina. Nichts Schlimmes, weder für den Baum im Besonderen, noch für die Natur im Allgemeinen, wie der Biologe und Botaniker aus dem Kreis Unna sagt. Ganz im Gegenteil.

Dass Flechten, die in den 1970er-Jahren kaum noch anzutreffen waren, jetzt wieder auffielen, sei ein echter Erfolg: „Ein deutliches Zeichen, dass die Luftqualität besser geworden ist.“ Seit einigen Jahren beobachte er ihre Ausbreitung. Im Fall der Gelbflechte löst das bei Loos aber nicht nur Begeisterung aus. Um das zu verstehen, bedarf es eines Blicks auf das seltsame Doppelwesen der Flechte.
Flechten bestehen aus zwei Organismen: einem Pilz und einer Grün- oder Blaualge. Der Pilz und sein Partner leben zusammen auf einem Substrat: ob Gestein, Humus oder eben Apfelbaum-Rinde. Auch die Mitglieder dieser Lebensgemeinschaft existieren nicht nur von Luft und Liebe. Sie brauchen aber nicht sehr viel mehr, denn sie haben gelernt, sich optimal zu ergänzen.
Pilz und Alge haben sich zusammengetan
Ein Pilz hat nichts Grünes: weder Blätter, noch Nadeln. Er kann keine pflanzliche Photosynthese betreiben - anders als die Alge. Sie liefert so dem Pilz energiereiche Nahrung, Der Pilz wiederum bedankt sich, indem er Pigmente bildet, die die Alge vor zu starker Sonnenstrahlung schützen. Damit das klappt, stellen beide Partner gemeinsam eine Säure her - ein Produkt, das keiner alleine zu Wege bringen könnte. Dieses Zusammenspiel ist so ausgeklügelt, dass Flechten selbst da anzutreffen sind, wo kaum ein anderes Lebewesen existieren mag: ob in der Wüste und auf nackten Felswänden. Pilz und Alge scheinen ein geradezu unschlagbares Paar zu sein, das gemeinsam Jahrhunderte lang leben kann - vorausgesetzt, der Mensch sorgt nicht für dicke Luft.

„Luftschadstoffe bringen das sensible Miteinander durcheinander“, sagt Loos. Das macht Flechten zu leichten Opfern der Industrialisierung. Besonders problematisch: das Schwefeldioxid. Was aus den Industrieschloten und den Auto-Auspuffanlagen kam, hat vielen der Überlebenskünstlern im 20. Jahrhundert den Garaus gemacht. Es wandelte sich in der Flechte in Salz um und zerstörte den sensiblen Wasserhaushalt der Mischwesens. Den Zusammenhang zwischen Luftreinheit und Flechtenwachstum hatte als einer der ersten William Nylander (1822-1899) beobachtet. Der finnische Botaniker hatte festgestellt, dass in Paris deutlich weniger Flechten anzutreffen waren als in seiner finnischen Heimat. Mit dieser Erkenntnis legte er die Basis für den Einsatz von Flechten als Bioindikatoren für Luftqualität .
„Seit einigen Jahren lassen sich bei uns wieder verstärkt Flechten beobachten“, sagt Götz Loos, selbst in Ballungszentren: ein gutes Zeichen. Denn das sei ein Beleg dafür, das Rauchgasentschwefelungsanlagen und der Katalysatoren Wirkung zeigen. Allerdings bleibt noch weiter Luft nach oben bei der Luftqualität: „Mehr als die Hälfte unserer heimischen Flechten werden laut Roter Liste als gefährdet eingestuft“, hat der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) mitgeteilt. Loos hat aber noch einen anderen Punkt, der die Freude über die Rückkehr der Flechten trübt. Und der führt zurück zum gelb ummantelten Apfelbaum.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen sorgt sich
Die Gewöhnliche Gelbflechte, die sich auf seiner Borke so wohl fühlt, mag nämlich nicht nur gute Luft, sondern auch besonders nährstoffreiche. Während das Schwefeldioxid in der Luft deutlich zurückgegangen ist, ist die Belastung mit Stickstoffverbindungen unvermindert hoch. „Eine Folge der intensiven Landwirtschaft“, sagt Loos. Das 2015 veröffentlichte Sondergutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU), der ältesten Institutionen wissenschaftlicher Beratung für die deutsche Umweltpolitik, bestätigt das.
Durch Flechtenkartierungen sei im Zeitraum zwischen 1970 und 2005 ein deutlicher Anstieg des Anteils Eutrophierung - also Überdüngung - anzeigender
Flechtenarten nachgewiesen worden, heißt es da. In einer vergleichenden
Flechten-Kartierung aus den Jahren 1989 und 2007 in einem landwirtschaftlich intensiv genutzten Raum Nordwestdeutschlands „wurde eine sehr starke Abnahme säuretoleranter Arten und eine deutliche Zunahme basen- und nährstofffordernder Flechtenarten festgestellt“.
Gelbflechte profitiert von Dünger aus der Luft
Die Gelbflechte ist genau so eine nährstofffordernde Art, die von der Düngung aus der Luft profitiert, die andere in ihrer Existenz bedroht - nicht nur Flechten, sondern auch Moore, Heiden, Trockenrasen und Wälder, wie es in dem Gutachten heißt.
„Das Problem zu lösen, ist noch eine große Herausforderung“, sagt Götz Loos. Davor kann keiner die Augen verschließen - auch, weil es immer mehr grellgelbe Hinweise darauf gibt. Nicht nur am kleinen, knorrigen Apfelbaum.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist im Juli 2021 zum ersten Mal erschienen.
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