Frauen und Kommunalpolitik: „Frauen müssen immer mehr leisten als Männer“

© Beate Rottgardt (Archiv)

Frauen und Kommunalpolitik: „Frauen müssen immer mehr leisten als Männer“

rnKommunalwahl 2020

Wie groß ist eigentlich der Frauenanteil im Selmer Stadtrat und wie könnte er auf Dauer erhöht werden? Das zeigt eine Recherche der Ruhr Nachrichten und des Recherchezentrums Correctiv.

von Sabine Geschwinder, Correctiv.Lokal

Selm

, 06.09.2020, 16:30 Uhr / Lesedauer: 3 min

Entschlossen sieht sie auf dem Foto aus. Direkt in die Kamera blickt sie nicht, sondern auf die Briefe und Unterlagen, die vor ihr auf dem Schreibtisch liegen. Man könnte auch sagen: die Arbeit, die vor ihr liegt. Das Foto von Marie-Lis Coenen zeigt sie rund eine Woche, nachdem sie mit mit 52,7 Prozent der Stimmen im Jahr 1999 zur Bürgermeisterin der Stadt Selm gewählt wurde.

Marie-Lis Coenen als frisch gewählte Bürgermeisterin. Das Bild wurde am 4. Oktober 1999 aufgenommen.

Marie-Lis Coenen als frisch gewählte Bürgermeisterin. Das Bild wurde am 4. Oktober 1999 aufgenommen. © Andreas Wegener (Archiv)

„Es hieß damals sogar, ich sei die einzige hauptamtliche Bürgermeisterin in NRW“, erinnert sich Marie-Lis Coenen (82) im Gespräch mit der Redaktion. Sie habe damals gedacht: „Hoffentlich bleibt das nicht so.“ Die Information, die sie damals erhalten hatte, stimmte zwar nicht: Insgesamt 17 Bürgermeisterinnen brachte die Kommunalwahl von 1999 hervor, wie ein Blick auf die Wahlergebnisse von damals zeigt. Viel ist aber auch das nicht gewesen. Gerade mal 4,5 Prozent machte die Bürgermeisterinnen bei 373 Städten und Gemeinden in NRW aus.

Diese Recherche ist Teil einer Kooperation der Ruhr Nachrichten mit CORRECTIV.Lokal, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalpartnern umsetzt. CORRECTIV.Lokal ist Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV, das sich durch Spenden von Bürgern und Stiftungen finanziert. Mehr unter correctiv.org

Ein Frauenanteil von 18 Prozent in der Selmer Kommunalpolitik

Aber auch jetzt, 21 Jahre später, sind Frauen in der kommunalen Politik immer noch deutlich unterrepräsentiert. Für das Amt des Bürgermeisters kandieren 2020 in Selm sechs Kandidaten. Fünf Männer und eine Frau. Das Recherchezentrum Correctiv, mit dem wir für diesen Artikel kooperieren, hat zum Thema Unterrepräsentanz von Frauen in der kommunalem Politik unter anderem eine interaktive Karte auf Basis der Wahlergebnisse aus 2014/15 erstellt. Sie zeigt, wie wenig Frauen in den Räten sind. Insgesamt beträgt der Frauenanteil in den Stadträten in NRW 24 Prozent. Selm und Olfen liegen mit 18 Prozent darunter, Nordkirchen mit 24 Prozent genau im Durchschnitt. Die Schwankungen sind aber allgemein groß. Während im westfälischen Halle der Frauenanteil bei 44 Prozent liegt, gibt es in Sassenberg im Kreis Warendorf nicht eine einzige Frau im Rat.


Die Entscheidung, zu kandidieren, hatte Marie-Lis Coenen damals auch nicht leichtfertig getroffen. „Das hat schon ein paar schlaflose Nächte gekostet“, erzählt sie. Damals habe sie schließlich gegen den damaligen Stadtdirektor Peter Vaerst - ihren Chef - kandidiert. „Ich war ja kleine Sozialamtsmitarbeiterin“, sagt Coenen. Da musste sie einfach überlegen, was passiert, wenn sie verliert. Außerdem war die Doppelspitze aus Stadtdirektor und politischem Bürgermeister gerade abgeschafft worden. Das bedeutete auch viel mehr Verantwortung für den hauptamtlichen Bürgermeister. „Und dafür muss man den Rücken frei haben“, sagt sie. Doch sie traute sich und siegte.

Eine ablehnende Haltung, weil sie eine Frau ist, habe sie manchmal festgestellt, sagt Coenen. Das sei aber eher von Frauen gekommen, sagt sie. „Ich weiß nicht warum. Ob es Neid war?“, überlegt sie. Aber damit gerechnet, dass 21 Jahre nach ihrer Wahl viel mehr Frauen in den Räten sitzen, hatte sie auch nicht unbedingt, sagt Coenen. „Ich freue mich, wenn Frauen solche Positionen besetzen“, sagt sie. „Ich weiß aber leider, dass sie auch immer mehr leisten müssen als Männer. Ich würde mir wünschen, dass die Gleichstellung da weiter wäre.“

60 Prozent der Politikerinnen erlebten Diskriminierung

Dass das Problem von Sexismus in der lokalen Politik durchaus ein strukturelles ist und sich nicht auf Einzelfälle bezieht, zeigt eine groß angelegte, aber nicht repräsentative Untersuchung von Correctiv. 571 Politikerinnen und Politiker aus Nordrhein-Westfalen - auch aus Selm - haben sich daran beteiligt. 416 der Umfrageteilnehmer waren Frauen. Dabei gaben 60 Prozent der Frauen an, im Rahmen ihrer politischen Arbeit Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder Sexismus erfahren zu haben.

30 Prozent der Lokalpolitikerinnen gaben an, wegen negativer Erfahrungen als Frau in der Politik schon einmal daran gedacht zu haben, ihre Parteiämter oder Mandate niederzulegen. Teilweise klafften die Ergebnisse auch auseinander, wie die Correctiv-Befragung zeigte: Zum Beispiel beklagen 19 Prozent der Politiker, aber nur vier Prozent der Politikerinnen eine zu geringe Bereitschaft junger Frauen zum politischen Engagement.

Gesetzliche Rahmenbedingungen und digitale Teilhabe

Und welche konstruktiven Schlüsse können nun aus diesen Ergebnissen gezogen werden? Gut 40 Prozent der befragten Politikerinnen nennen eine bessere Vereinbarkeit von Politik und Familie als Voraussetzung dafür, dass der Frauenanteil in den Kommunalparlamenten steigt.

So sehen das auch Paula Schweers und Stefanie Lohaus von der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF), die sich mit den Ergebnissen der Befragung beschäftigt haben. Ein Grund für die Unterrepräsentanz sei die Nominierungspraxis der Parteien. Vor allem bei aussichtsreichen Direktmandaten würden häufiger Männer als Frauen aufgestellt und entsprechend auch gewählt. Die mangelnde Vereinbarkeit des arbeitsintensiven Amtes mit Familie und Beruf und einer politischen Kultur, die viele Frauen eher abschrecke, statt sie zu fördern, sei ebenfalls ein Problem.

„Deshalb benötigt auch Kommunalpolitik gesetzliche Rahmenbedingungen wie etwa Paritätsgesetze sowie begleitende Empowermentmaßnahmen und Vernetzung. Vielerorts ließe sich zudem die Vereinbarkeit von Amt, Familie

und Beruf deutlich verbessern, etwa indem Gremiensitzungen mit digitaler Teilnahme ermöglicht werden“, so die Expertinnen.

Marie-Lis Coenen, die bis 2004 Bürgermeisterin von Selm war und sich heute weiterhin ehrenamtlich auf unterschiedliche Weise engagiert, weiß, dass Frauen oft ein dickes Fell benötigen. Trotzdem: „Ich würde jeder Frau, die die Politik reizt, raten, zu kandidieren“, sagt sie. Mit einem politischen Amt könne man viel gestalten, etwas bewegen, das sei sehr zufriedenstellend. Wenn sie an ihre Zeit als Bürgermeisterin denkt, sagt sie: „Es war eine wunderschöne Zeit. Das würde ich jeder Frau gönnen, dass sie das auch so erlebt.“