Selbst langjährige Kommunalpolitiker kommen bei dem Tempo schon mal durcheinander, das der Sanitärgroßhändler Cordes und Graefe in Selm an den Tag legt. „Ich bin etwas irritiert“, sagte Dr. Hubert Seier (UWG) während der jüngsten Sitzung des Ausschusses für Stadtentwicklung und Bauen: „War nicht schon immer die Rede davon, dass das Unternehmen die ganze Fläche bis zum Ondruper Weg nutzen möchte?“ Genau das soll aber erst ein neuer Bebauungsplan ermöglichen, dessen Aufstellung Seier und seine Ausschusskollegen - Frauen waren nicht vertreten - am 30. November schließlich auch beschlossen haben. Mit Bedenken.
Dass der Beschluss für den Bebauungsplan Nummer 95 „Nördliche Erweiterung des Industriegebietes Werner Straße“ der dritte Schritt vor dem ersten sei, mahnte etwa Ingmar Leismann (Grüne) an. Der gerade fertiggestellte erste Bauabschnitt, gehe seit Dezember nach und nach in Betrieb. Die Arbeiten zum zweiten Bauabschnitt - dafür gibt es bereits Baurecht - hätten noch gar nicht begonnen. „Und jetzt sprechen wir schon über den dritten.“ Das sei für seinen Geschmack „ein bisschen zu schnell“.
Auch die FDP machte einen Einwand. „Wie viele zusätzliche Arbeitsplätze ergeben sich denn aus der dritten Erweiterung“, fragte Klaus Schmidtmann an die Adresse von Rolf Daniel, den Geschäftsführer des von Cordes und Graefe beauftragten Dortmunder Planungsbüro Bau-Prisma Plan. „Wir sollen eine große Gewerbefläche aus der Hand geben“, ergänzte der Liberale. Da sei diese Auskunft nicht irrelevant. Eine Antwort blieb nicht nur Daniel schuldig.
200 statt 800 Beschäftigte
Auch Bürgermeister Thomas Orlowski, der von „intensiven Gesprächen“ mit Cordes und Graefe im zurückliegenden halben Jahr sprach, wollte sich nicht äußern. Den Fehler, den einst sein Amtsvorgänger Mario Löhr gemacht habe, werde er nicht wiederholen, sagte er stattdessen. Löhr hatte sich als Bürgermeister maßgeblich für die Ansiedlung des Hausgeräte- und Sanitärgroßhändlers aus Bremen in Selm eingesetzt. Als die Verhandlungen geglückt waren, hatte er auf dem städtischen Neujahrsempfang 2019 angekündigt, dass das Unternehmen an der Werner Straße „bis zu 800 Arbeitsplätze schaffen“ werde. Seitens des Unternehmens war bis heute aber immer nur von 200 Arbeitsplätzen die Rede.
„Ich werde jetzt nicht spekulieren, wie groß die Zahl ist“, sagte Orlowski mit Blick auf das zusätzliche Potenzial durch die dritte Erweiterung. Ganz enthielt er sich dann aber doch nicht. Es sei „ein einfacher Dreisatz“, der zumindest einen Anhaltspunkt liefern könne, meinte er: Auf dem 13,56 Hektar großen Grundstück - der Fläche für den ersten und zweiten Bauabschnitt - würden „im ersten Schritt“ 200 neue Arbeitsplätze geschaffen, wie das Unternehmen mitgeteilt hatte. 6,2 Hektar kämen jetzt dazu. Rein rechnerisch wären das 91 zusätzliche Stellen: eine Zahl, die Orlowski aber nicht aussprach. Am Ende könnten es „tendenziell wesentlich mehr als 200 Arbeitsplätze sein“, sagte er stattdessen.
RVR: Nur für die CG-Gruppe
Der Wert sei angesichts des Wunsches auf eine dritten Erweiterungsrunde auch unerheblich, korrigierte er Schmidtmanns Eindruck. Denn unabhängig von den Arbeitsplätzen: „Diese Fläche bis zum Ondruper Weg könnte niemand anderes nutzen als Cordes und Graefe. Mit dem für solche Nutzungsfragen zuständigen Regionalverband Ruhrgebiet (RVR) sei die mögliche Nutzung des Streifens nördlich des aktuellen Cordes-und-Graefe-Grundstücks bereits besprochen. Der RVR würde eine Genehmigung ausschließlich für eine Erweiterung durch die Cordes-und-Graefe-Gruppe, also möglicherweise auch einer Tochtergesellschaft, erteilen, sagte Orlowski. Die Frage stelle sich also nicht, ob die Stadt Selm möglicherweise einem anderen Unternehmen die verbliebenenn 6,2 Hektar besser zur Verfügung stellen sollte.
Wann genau Cordes- und Graefe den dritten Bauabschnitt angehen wolle, ließ Rolf Daniel offen. „Ich kann da kein Datum sagen.“ Fest stehe aber, dass eine Planänderung, wie der Ausschuss sie jetzt auf den Weg gebracht habe, seine Zeit benötige. Baudezernent Thomas Wirth vermutet, dass es etwa 22 Monate dauern werde, bis der Satzungsbeschluss über den Bebauungsplan erfolgen könne. Für Bürgermeister Orlowski hat der Beschluss, das Vorhaben jetzt auf den Weg zu bringen, Signalcharakter: „Wir wollen Cordes und Graefe frühzeitig zeigen, dass Selm in Frage kommt.“ Schließlich sei die CG-Gruppe auch noch andernorts ansässig, und Selm stehe damit in Konkurrenz zu anderen Standorten.
Elf Lagerhallen in Selm
Am Selmer Standort will die Cordes und Graefe KG Artikel des Sanitär-, Heizungs- und Elektrogroßhandels lagern, kommissionieren und versenden: ein Zentrallager. Seit Dezember 2023 gehen die Hallen zwei bis vier des ersten Bauabschnitts nach und nach in Betrieb. Die Hallen eins und fünf werden bis Ende März folgen. Das Logistikzentrum zur Warenbevorratung für den Großhandel hat jetzt schon den zweiten Erweiterungsschritt in trockenen Tüchern: den Bau der Hallen sechs und sieben sowie zweier Hochregallager. Beides ist auf dem Gebiet des gültigen Bebauungsplanes realisierbar. Im dritten Bauabschnitt, für den das Gros des Ausschusses den Weg gebet hat bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung, geht es um den Bau von vier weiteren Hallen. Das wären unterm Strich elf Hallen auf dem dann komplett genutzten Gelände zwischen Werner Straße und Ondruper Weg. Eine weitere Ausdehnung der Gewerbefläche nach Osten sei angesichts des erforderlichen Abstands zur Siedlung „Zwölf Apostel“ nicht möglich, hieß es während der Sitzung.

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