Die Kreisstraße Nr. 80: Hier war einst das Geschäft von Moritz Heumann. 1944 ist er in Auschwitz ermordet worden. Das Haus, in dem er gelebt hat, wird bald abgerissen. © Archiv Heinz Cymontkowski
Jüdische Geschichte
Abriss auf der Kreisstraße: Spur jüdischen Lebens in Selm verschwindet
Moses Heumann lebte bis 1938 in Selm - dann floh er vor den Nazis und wurde in Auschwitz ermordet. Das Haus, in dem er seine Metzgerei hatte, gehört zu denen, die bald abgerissen werden.
M. Heumann: Gut lesbar und schnörkellos stand dieser Name viele Jahre lang da, wo jetzt - deutlich bunter - noch die Reklame der Pizzeria Bella Italia auf der Kreisstraße hängt. Die Hausnummer 80 ist das heute - als Moritz Heumann noch seine Metzgerei dort hatte (bis 1938) war es die Hausnummer 52 gewesen. Bald wird es das Haus gar nicht mehr geben: Es gehört zu denen auf der Kreisstraße, die abgerissen werden sollen.
„Der Abriss ist unschön, die Tatsache, dass wir dann eine Spur jüdischen Lebens weniger in Selm haben, schon fast tragisch“, hat eine Leserin der Ruhr Nachrichten an die Redaktion geschrieben. Denn: Es gibt sowieso schon nur wenige Spuren, die im Stadtbild noch an Menschen jüdischen Glaubens erinnern, die vor dem Nationalsozialismus in Selm gelebt haben. Und die nach der Machtübernahme Hitlers 1933 nach und nach die Stadt verließen - diskriminiert, erniedrigt und ihrer Rechte beraubt. Die meisten von ihnen überlebten die Nazi-Zeit nicht. Auch Moritz - oder Moses - Heumann nicht. Er ist 1944 in Auschwitz ermordet worden. So steht es auch auf dem Stolperstein, der vor dem Haus auf der Kreisstraße liegt, - der erste Stolperstein, den es in Selm überhaupt gab.
Der erste Stolperstein, der in Selm verlegt wurde, erinnert an das Leben - und die Ermordung - von Moritz Heumann. © Günther Goldstein
Kein Trost für das Erlebte, aber eine Erinnerung an das Leben. Eine Spur. So nahm auch Johanna Lore Gartenhaus die kleine, in den Bürgerstein eingelassene Messingtafel wahr, die 2007 für ihren Großvater verlegt wurde. Lebhaft erinnerte sie sich damals noch an die grausamen 1930er-Jahre. Angefangen mit den Verbot der Nationalsozialisten, in Geschäften einzukaufen, die von Juden betrieben wurden.
„Stand für Juden“ auf dem Markt in Beifang
Mehreren Kaufleuten in Selm wurde so natürlich ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage genommen. Darüber schreibt auch der Selmer Künstler Heinz Cymontkowski, in einem Aufsatz zu jüdischem Leben in Selm. „In Selm-Beifang lebten etwa Mitte der 1930er-Jahre drei jüdische Familien, die des Metzgers Moses Heumann, die des Viehhändlers Berthold Weiss und die des Kaufmanns Leopold Portje (Manufakturwarengeschäft). Im August 1935 beschwerten sich die jüdischen Metzger aus Selm beim CV (Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens), weil ihnen auf dem Markt in Beifang ein besonderer Platz mit dem Schild ,Stand für Juden‘ zugewiesen worden war“, beschreibt er darin.
Johanna Lore Gartenhaus und Künstler Gunter Demnig bei der Verlegung des ersten Stolpersteins in Selm im Jahr 2007. © Malte Woesmann (Archiv)
Nicht lange danach sahen sich Moritz Heumann und Leopold Portje ihre Wohn- und Geschäftshäuser verkaufen. „In der Pogromnacht raubten SA-Leute den Laden Portje aus und steckten ihn in Brand, auch die darüberliegende Wohnung wurde zerstört“, schreibt Heinz Cymontkowski. Auch die Synagoge in Bork wurde in dieser Nacht verwüstet - und vermutlich nur nicht von dem wütenden Mob in Brand gesteckt, weil sie mitten im Dorf lag und man sich vor der Beschädigung anderer Gebäude durch ein Feuer fürchtete.
Die Nacht jedenfalls und der ganze Hass, so erinnerte sich Johanna Lore Gartenhaus im Jahr 2007, war für ihre Familie damals der Punkt, an dem sie sich entschloss zu fliehen. Sechs Jahre war sie damals alt. Ihr Großvater organisierte die Flucht der Familie in die Niederlande. „Seine Tochter Berta, seine siebenjährige Enkelin Johanna Lore und sein Schwiegersohn Berthold Weiss emigrierten von dort im November 1939 in die USA“, ist auf der Homepage „Verwischte Spuren“ zu lesen. Und Moses Heumann? Der blieb in Europa. Und hoffte auf ein Wunder.
Leider kam es aber nicht. Nachdem er in den Niederlanden zunächst untergetaucht war, entdeckte ihn die SS. Und deportierte ihn nach Theresienstadt ins Konzentrationslager.
Stolperstein bleibt auch nach Abriss liegen
Wie er am Hafen steht und dem Schiff hinterherwinkt: Das ist die letzte Erinnerung, die Johanne Lore Gartenhaus an ihren Großvater hat. Danach hörte sie nur noch ein einziges Mal von ihm - in einem Brief, den er aus Auschwitz schrieb. Kurz danach starb er in dem Vernichtungslager - am 11. Oktober wurde er für tot erklärt.
Zum Jahreswechsel sind die acht Häuser auf der Kreisstraße, die abgerissen werden sollen, leer gezogen worden. Das Haus, in dem die Metzgerei Heumann war, ist das mit der Nummer 80 (das dritte von links in der abgebildeten Reihe). © Marie Rademacher (Archiv)
Auch das steht auf dem Stolperstein auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude, in dem einst sein Geschäft gewesen ist. Und das es bald auch nicht mehr geben wird. Der Stolperstein, das sagt Stadtsprecher Malte Woesmann auf Anfrage der Redaktion, wird aber an Ort und Stelle bleiben. Und zwar „selbstverständlich“. Schon beim Umbau der Kreisstraße war der Stein übrigens einmal hochgenommen, verwahrt und dann wieder eingesetzt worden. So ähnlich könnte es auch laufen, wenn die Abrissbagger an die Kreisstraße rollen. Wann genau das der Fall sein wird - dazu gibt es noch keinen festen Termin.
Johanna Lore Gartenhaus hat der Stein für ihren Großvater viel bedeutet - so sagte sie es 2007: „Es hat nie eine Beerdigung für meinen Großvater gegeben. Jetzt kann ich ruhen.“
Vielen Dank für Ihr Interesse an einem Artikel unseres Premium-Angebots. Bitte registrieren Sie sich kurz kostenfrei, um ihn vollständig lesen zu können.
Jetzt kostenfrei registrieren
Einfach Zugang freischalten und weiterlesen
Werden auch Sie RN+ Mitglied!
Entdecken Sie jetzt das Abo, das zu Ihnen passt. Jederzeit kündbar. Inklusive Newsletter.
Bitte bestätigen Sie Ihre Registrierung
Bitte bestätigen Sie Ihre Registrierung durch Klick auf den Link in der E-Mail, um weiterlesen zu können.
Prüfen Sie ggf. auch Ihren Spam-Ordner.
Einfach Zugang freischalten und weiterlesen
Werden auch Sie RN+ Mitglied!
Entdecken Sie jetzt das Abo, das zu Ihnen passt. Jederzeit kündbar. Inklusive Newsletter.