Viele kommen zurück nach Villigst, sobald sie selbst Kinder haben. Dort kann man gut aufwachsen, aber nicht so komfortabel alt werden. Zum Einkauf und zum Arzt muss man raus.

Villigst

, 28.03.2019, 05:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Als sie selbst Kinder hatte, ist Petra Müller-Kramer nach einem zehnjährigen „Ausflug“ nach Dortmund zurückgekehrt an den Ort der eigenen Kindheit und Jugend - nach Villigst. „Meine Kinder sollten aufwachsen können an einem Ort, wo Kinder noch auf der Straße spielen und zur Schule laufen konnten.“ Inzwischen sind die Kinder 38, 34 und 30 Jahre alt und sind geblieben, zumindest in der Nähe. Kinder spielen in Villigst noch immer auf Straßen, fahren Rad oder Inliner.

„Damals war Villigst noch intakt“, erzählt Petra Müller-Kramer, „in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren gab es noch einen evangelischen und einen katholischen Pfarrer im Ort, eine Post, einen Lotto-Toto-Laden, in dem Kinder auch mal Süßigkeiten kaufen konnten, zwei Lebensmittelgeschäfte. Da gingen die Kinder mit einem Einkaufszettel los, um beim Metzger ein Pfund Mett zu kaufen.“

Diese verbindenden Elemente gebe es nicht mehr, und dennoch könne man in Villigst nach wie vor sehr gut leben. Gerade Familien mit Kindern seien hier sehr zufrieden, weiß Petra Müller-Kramer, die als Leiterin des Offenen Ganztags an der Villigster Grundschule viele Familien und ihre Nöte kennt.

Gute Noten für Sauberkeit und Lebensqualität

Beim großen Ortsteilcheck der Ruhr Nachrichten haben 95 Villigster ihren Stadtteil beurteilt. Acht von zehn möglichen Punkten gab es dabei für Lebensqualität und Sauberkeit, einen noch höheren Wert bekam mit neun Punkten das grüne Umfeld.

Das weiß auch Petra Müller-Kramer zu schätzen, seit sie als kleines Mädchen durch Villigst und die angrenzende Natur streifte. „Villigster Kinder können auch heute noch am Bach spielen und über Pferdekot laufen“, lobt sie die Situation vor Ort. Es sei eigentlich kein Wunder, dass viele Familien in Villigst nach einem Eigenheim Ausschau hielten. „Egal, ob man im Unterdorf oder im Oberdorf wohnt, man ist immer binnen zehn Minuten im Wald oder auf der Wiese.“

Zum Arzt oder zum Einkaufen sind die Wege dagegen deutlich weiter. Das störe und belaste vor allem die älteren Villigster, berichtet Petra Müller-Kramer.

Der Villigster Frischemarkt war 70 Jahre lang eine Institution an der Ecke Fasanenweg/Am Winkelstück.

Der Villigster Frischemarkt war 70 Jahre lang eine Institution an der Ecke Fasanenweg/Am Winkelstück. © Reinhard Schmitz

Das Pläuschchen im Wartezimmer von Dr. Uwe Geist oder das gemeinsame Anstehen im Frischemarkt habe neben der reinen Versorgung auch einen sozialen Aspekt gehabt: „Man traf sich im Alltag. Diese Kontakte fehlen heute.“

Die Schließung der Arztpraxis sorgt für schlechte Noten

Das sehe sie an ihren eigenen Eltern. Und denen gehe es noch verhältnismäßig gut. Sie haben zwei Töchter in der Nähe, die sich kümmern und bei den Besorgungen helfen, den Kontakt zu den Nachbarn jedoch nicht ersetzen können.

Die Schließung der Hausarztpraxis wird von vielen Villigstern als Katastrophe empfunden.

Dr. Uwe Geist hatte jahrelang einen Nachfolger gesucht. Als er 2016 in Ruhestand ging, übernahmen die Schwerter Ärzte Theodor und Stefan Spanke die medizinische Versorgung in dem Ortsteil südlich der Ruhrbrücke. Allerdings nur für zwei Jahre: Als die dort tätige Ärztin ein Baby erwartete, blieb die Suche nach einer Vertretung erfolglos. Die Praxis wurde geschlossen.

Seit dem Jahresende hat die Hausarztpraxis an der Villigster Straße geschlossen.

Seit dem Jahresende hat die Hausarztpraxis an der Villigster Straße geschlossen. © Reinhard Schmitz

Seitdem bangt man im Ortsteil auch um die Apotheke, die es ohne Arztpraxis ebenfalls schwer hat. So gab es im Dezember 2018 den eindringlichen Appell engagierter Villigster, der Tannen-Apotheke weiterhin die Treue zu halten und Apothekerin Melina Matthieu in ihrem Existenz-Kampf zu unterstützen.

Noch gebe es in Villigst zumindest einen Friseur, sagt Petra Müller-Kramer, „hoffen wir mal im Sinne der weniger mobilen Bewohner, dass der es noch lange schafft.“

Heike Achtermann von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe verweist auf den Gesamtversorgungsgrad in Schwerte von 133,4 Prozent. Sie erklärt: „Die Schließung der Filiale in Villigst ist sicherlich vor allem für die ortsansässigen Patienten bedauerlich, von einem ,Mangel-Gebiet‘ kann jedoch nicht die Rede sein, da es in der nahen Umgebung genügend Hausärzte gibt. Auf Grund der guten Versorgungssituation in Schwerte insgesamt ist die Zulassung für einen weiteren Hausarzt derzeit ausgeschlossen.“ Eine Weiterführung der Filiale durch die Drs. Spanke jetzt oder auch zu einem späteren Zeitpunkt sei jedoch durchaus möglich, um den lokalen Versorgungsbedarf doch noch zu optimieren.

Per Bus geht‘s schnell nach Ergste, mit dem Auto schnell raus aus Villigst

Apropos Mobilität: Die Verkehrsanbindung bekam in der Umfrage sechs Punkte. Für Petra Müller-Kramer ein überraschend schlechter Wert. Sie wundert sich: „Früher fuhr der Bus einmal pro Stunde, inzwischen gibt es zumindest eine gute Busverbindung nach Ergste. Da kann man sich eigentlich nicht beklagen.“ Allerdings fahre der letzte Bus um 23 Uhr, das schränke die Beweglichkeit der Jugend ein.

Pendler kommen dagegen recht gut aus Villigst weg. Von denen gibt es viele. Wer im Rummel von Städten arbeitet, wohnt halt gern ruhig. Das bietet Villigst. Dort stehen Häuser nicht lange leer, wenn sie von der älteren Generation verlassen werden. Petra Müller-Kramer, die einst den Kindergarten in Villigst geleitet hat, freut sich über jedes Kind, das mit seinen Eltern in Villigst ein neues Zuhause findet: „Wir müssen aufpassen, dass Villigst nicht stirbt.“

Das wurde (noch) positiv bewertet

Kinderbetreuung: Mit sieben Punkten erreicht Villigst exakt den stadtweiten Wert. Die Grundschule hat einen guten Ruf, auf ihrem Gelände gibt es das Haus für den Offenen Ganztag. Der Kindergarten wird derzeit erweitert. Auch Petra Müller-Kramer, die einst aus eigener Betroffenheit die ersten Hortplätze in Villigst schuf, beurteilt die Lage positiv.

Sport: Auch hier gab es sieben Punkte von unseren Lesern. Es gebe noch viele intakte Sportvereine, freut sich auch Petra Müller-Kramer: „Der TuS Westfalia macht zum Beispiel ein großes Angebot, viele Übungsstunden finden in der Turnhalle an der Grundschule statt.“

Das wurde negativ bewertet:

Jugendliche: Gerade einmal vier Punkte bekam das Angebot für Jugendliche. Für Teenager ist in der Tat nicht viel los in Villigst. Immerhin gibt es in der Nähe der Grundschule das reaktivierte Jugendzentrum, das pro Tag, so Petra Müller-Kramer, im Schnitt von 13 Jugendlichen besucht wird.

Gastronomie: Nur drei Punkte und damit nicht einmal die sechs Punkte des Stadt-Durchschnitts bekommt das gastronomische Angebot von Villigst. Nur Lichtendorf hat in diesem Bereich noch schlechter abgeschnitten. „Früher gab es bei Lebensmittel Grewe ein Café, das sehr beliebt war“, erinnert sich Petra Müller-Kramer. Immerhin sei mit dem Ellinikon jetzt wieder ein Restaurant in der Nähe. Dagegen gebe es nicht einmal eine Kneipe, in der sich ein Elternstammtisch oder ein Förderverein treffen könne. Der Traum von einem Backcafé in der ehemaligen Sparkassen-Filiale hat sich erst einmal zerschlagen.

Nahversorgung: Drei Punkte für die Nahversorgung. Der schlechteste Stadtteilwert der kompletten Umfrage. Mit dem Verlust des Frischemarktes am Winkelstück, Ecke Fasanenweg ist die letzte Einkaufsmöglichkeit verschwunden. Auch die Sparkasse hat sich längst mit ihrer Filiale zurückgezogen.

Gesundheit: Seit sich die Drs. Spanke zurückgezogen haben, gibt es keinen Arzt mehr in der Nähe: Das schlägt sich in der stadtweit niedrigsten Note der gesamten Umfrage überhaupt nieder. Dafür bekam Villigst mickrige 2 Punkte.

Villigst: Schöner Wohnen im Grünen, aber ohne Hausarztpraxis und Lebensmittelgeschäft

© Grafik Ruhr Nachrichten

Ortsteil-Chronik

Die ersten Bewohner kamen schon in der Bronzezeit

Mit freiem Blick auf die Ruhr präsentiert sich das Herrenhaus von Haus Villigst auf der Postkarte aus dem Jahre 1899. Die Weiden am Flussufer wurden erst später gepflanzt und gehören nicht zum Parkkonzept.

Mit freiem Blick auf die Ruhr präsentiert sich das Herrenhaus von Haus Villigst auf der Postkarte aus dem Jahre 1899. Die Weiden am Flussufer wurden erst später gepflanzt und gehören nicht zum Parkkonzept. © Foto: Stadtarchiv Schwerte

Villigst war bereits seit der Bronzezeit bewohnt und spielte auch im Mittelalter eine bedeutende Rolle. Hier befand sich der älteste bekannte Sitz eines Kleinadeligen im Raum Schwerte. Die alte Burganlage musste schließlich 1819 einem klassizistischen Neubau, dem heutigen Haus Villigst weichen. Seit 1948 gehört es der evangelischen Landeskirche, die dort ein Zentrum evangelischer Bildungs- und Sozialarbeit geschaffen hat. Offiziell besteht das Dorf Villigst seit dem 1. Oktober 1930. Nach dem Krieg entwickelte sich Villigst von der kleinen Streusiedlung mit überwiegend landwirtschaftlichem Charakter zu einem modernen Stadtteil mit guter Infrastruktur und hohem Wohnwert. Die Einwohnerzahl steigerte sich von 973 am 1.1.1946 auf heute rund 3500 Personen.