„Schiss hatte ich eigentlich nur ein Mal so richtig“ – eigentlich wollte der 24-jährige Victor aus Schwerte nur etwa eine Woche in der Ukraine bleiben, um eine Dokumentation über den Krieg zu drehen. Doch daraus wurden gleich mehrere. Jetzt sitzt der junge Filmemacher in unserer Redaktion. Unrasiert. Sehr bei sich. Konzentriert auf seinen mit Stickern beklebten Laptop, den er gerade aufgeklappt hat. „Von den Kilometern her haben wir etwa eine Strecke von Kiew nach Peking zurückgelegt“, sagt er mit fester Stimme, öffnet Google-Maps und beginnt zu erzählen.
Von seiner Zeit in einem Land, in dem täglich Menschen ihr Leben durch den Krieg verlieren und doch so gut es geht ihrem Alltag nachgehen, ganz normal – zwischen Bomben und Trümmern. Im Vorhinein hatte Victor gesagt, er wolle kein Abenteuer suchen. So wie seine Geschichte klingt, hat ihn das Abenteuer trotzdem gefunden.

Unterwegs in einem Minenfeld
„Ich schlafe schlechter, die Konzentration ist schlechter. Ich habe einen Blechspind – wenn der laut knallt, dann habe ich einen Flashback“, ist alles, was Victor über seine Gefühlswelt preisgeben möchte.
Über seine Zeit in der Ukraine erzählt der Schwerter mit Distanz: „In Nikopol waren wir an einem leer gelaufenen Stausee. Wir mussten dabei direkt auf die Russen zulaufen, die auf der anderen Seite stationiert waren, und haben Erstaunliches entdeckt: Überreste eines antiken Dorfs. Wir wussten aber, dass wir dort nicht lange filmen konnten.“
Erfreut über die Entdeckung hatten sie das rote Fähnchen nicht bemerkt, das sich in unmittelbarer Nähe befand. Es stellte sich heraus: Sie waren in einem Minenfeld umhergelaufen – unfassbares Glück, dass keine explodiert war. Mit dem lettischen Kriegsjournalisten Kristaps Andrejsons, bekannt durch den Podcast „The Eastern Border“, war der Schwerter in der Ukraine unterwegs.
Zeitweise unter Militärarrest
„Unter Militärarrest waren wir auch kurz.“ Victor schmunzelt und blickt hinter seinem Laptop hervor. Acht Stunden lang wurde er verhört, wie er erzählt: Handelt es sich wirklich um einen Journalisten aus dem Westen oder möglicherweise um einen Spion? Er kommt frei, muss umgerechnet eine Strafe von drei Dollar bezahlen und eine Überweisungsquittung vorlegen.
„Die Ukrainer nehmen ihre Bürokratie sehr genau. Hauptsache, es ist irgendwo ein Stempel drauf.“ Jetzt im Nachhinein erzählt er es als amüsante Anekdote. Ob er in dem Moment Angst hatte? Über die Frage geht Victor hinweg. Er erzählt weiter von Massengräbern, Verfolgungsjagd und Kollegen, die das Leben in der Ukraine verloren haben.
Oft erleben er und Kristaps Andrejsons, dass genau der Ort zerbombt wird, an dem sie einen Tag zuvor noch gewesen waren. Während er das sagt, vibriert die Tischplatte. Victor wippt mit seinem Bein auf und ab. Wieder Glück gehabt.

Zerstörte Kathedrale von Odessa
Der Schwerter erlebt die Ukrainer als ein sehr hilfsbereites Volk, als Teamplayer, „die den Krieg gewinnen werden, wenn unsere Unterstützung aus dem Westen nicht nachlässt“. Fotos hat Victor gar nicht so viele gemacht, wie er es sich vorher überlegt hatte. Er hat mehr gefilmt und veröffentlicht neben einer großen Dokumentation auch viele kleinere Kriegsreportagen. „Ich filme sehr anders. Ich bin mir sicher, dass ich so meinen Beitrag leisten kann“, sagt er.
Victor drückt auf „Play“ und eine seiner Dokus, die er schon online auf Youtube veröffentlicht hat, beginnt: Sie zeigt die zerstörte Verklärungskathedrale von Odessa, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Inmitten der Trümmer steht Miroslav Dadovitch, Priester der Kathedrale, und sagt: „Mit Gottes Hilfe werden wir die Kathedrale wieder aufbauen.“ Wie betroffen ihn das persönlich macht? Dafür gebe es keine Worte. Er sagt: „Die Kathedrale ist mein Leben“ – und im Hintergrund heulen wieder die Sirenen auf.
Die Doku zeigt viele starke Bilder. Das Ausmaß der Zerstörung zeigt Victor von oben: „Ich bin die kaputten Stufen hoch und offiziell der dümmste Mensch, dass ich das mache“, sagt Victor in der Dokumentation auf Englisch. In der Redaktion stoppt er dann das Video und erzählt wieder – von dem einen Mal, als er dann doch Angst bekam.
„Da hatte ich wirklich Schiss“
„Der Soldat stand vor mir, das Gewehr locker in der Hand.“ Zuvor hatte er einen lauten Knall gehört. Hatte sich ein Schuss daraus gelöst? Konnte das wieder passieren? „Da hatte ich wirklich Schiss. Ich hatte Sorge, dass er mich aus Versehen erschießt.“ Passiert ist es nicht. Nicht eine körperliche Schramme hat Victor aus seiner Zeit in der Ukraine zurückbehalten. Zum Schluss zeigt der 24-Jährige ein weiteres Video, das Teil seiner großen Doku werden wird und sagt: „Als ich das gedreht habe, da habe ich echt geheult.“

Abgeschlossen ist die Ukraine-Doku nicht
Das Video zeigt Kinder aus Charkiw, die auf einem Spielplatz spielen. Die Kamera zoomt immer weiter heraus und immer mehr offenbart sich für den Zuschauer die riesige Häuserfront, die plötzlich zu einer Seite in sich zusammengefallen ist. Die Kinder spielen vor den Trümmern des Hauses, das einst ihr Zuhause war. „Das ist deren Kindheit. Das werden sie nie vergessen“, sagt Victor ernst. „Diese riesigen Blockhäuser. Absurd riesig. Komplett zerfetzt.“ Dann schaut er auf den Bildschirm. Sagt lange nichts.
Fertig ist Victor mit seiner Kriegsdokumentation über die Ukraine nicht. Er wird am 10. Oktober wieder dorthin zurückreisen, gemeinsam mit Mitgliedern der Hilfsorganisation Renegade Relief Runners, und mit seinem Projekt weitermachen: „Und diesmal werden wir definitiv mit Soldaten an der Front drehen.“
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