
© Jessica Will
So kreativ und günstig ernährt sich eine Foodsaverin von Essen, das sie vorm Müll rettet
Foodsharing
Man wird in der Küche experimentierfreudiger und erschrickt sich, wie teuer Lebensmittel sind, wenn man sich ausnahmsweise mal bezahlen muss. Das sagt Anke Stüwe, überzeugte Foodsaverin.
Seit Anke Stüwe „retten geht“ gehören Großeinkäufe im Supermarkt der Vergangenheit an. Gerade mal 45 Euro hat sie in den vergangenen vierzehn Tagen beim Einkaufen ausgegeben. Für sich und ihren Lebensgefährten, der allerdings nur am Wochenende bei ihr ist. „Wenn ich im Supermarkt mal 20 Euro zahlen muss, kriege ich schon einen Schrecken.“ Zum Vergleich: Ein durchschnittlicher Zwei-Personenhaushalt hat 2017 monatlich laut Statistischem Bundesamt 369 Euro für Lebensmittel, Getränke und Zigaretten bezahlt. Einkaufen geht Anke Stüwe maximal einmal pro Woche, wenn überhaupt. Gähnende Leere also im Kühlschrank? Wasser und Brot zum Abendessen? Weit gefehlt.
An diesem Dienstagabend stapeln sich frisches Obst und Gemüse in der Küche der 57-Jährigen. Frische Beeren, Avocados, Laugenstangen, Bananen, Äpfel, Tomaten, Salat, Suppengemüse, frische Kräuter und vieles mehr hat sie aus einem Supermarkt mitgebracht. Gezahlt hat sie dafür nichts. Wobei es ihr darum nicht geht. Sie muss nicht sparen, im Portemonnaie wäre genug Geld gewesen, um die Lebensmittel zu kaufen. Das muss sie aber nicht. Denn Anke Stüwe ist Foodsaverin.
Mehrmals pro Woche Foodsharing-Touren zu Supermärkten
Die Schwerterin geht mehrmals pro Woche Lebensmittel retten: Sie holt in Supermärkten in Dortmund und Schwerte und auf dem Wochenmarkt Lebensmittel ab, die dort nicht mehr verkauft werden (können), aber noch genießbar sind. Äpfel und Avocados mit Druckstellen, Möhren, die vielleicht schon etwas schrumpelig sind. Aber auch Joghurt, der das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht hat. Laugenstangen, die dem Kunden am nächsten Tag nicht mehr angeboten werden.

Die Beute einer einzigen Abholung bei einem Supermarkt. „Und das ist noch wenig“, sagt Anke Stüwe. © Jessica Will
Die Idee der Foodsharing-Bewegung: Noch genießbare Lebensmittel, die sonst im Müll landen würden, vor der Vernichtung bewahren. Foodsaver handeln aus sozialen, ethischen und ökologischen Gründen. Sie wollen Lebensmittelverschwendung und damit den Hunger, die Ressourcenverschwendung und den dadurch beeinflussten Klimawandel minimieren.
So steht es in der Eigenerklärung der Foodsharing-Gemeinschaft, in der sich Anke Stüwe seit 2015 engagiert. Die Foodsaver organisieren sich über eine Online-Plattform, über die sich die einzelnen Mitglieder für die Abholtermine bei Supermärkten, Bäckereien, Wochenmärkten etc. eintragen.
Foodsaver müssen sich mit Foodsharing-Grundsätzen auskennen
Wer bei den Foodsavern mitmachen will, muss sich auf der Onlineplattform foodsharing.de registrieren. Um zu überprüfen, ob der Interessent sich mit den Grundsätzen und Regeln auseinandergesetzt hat, muss man erfolgreich ein Quiz absolvieren, bevor man Lebensmittel retten gehen darf. Bei der Abholung sind dieFoodsaver verpflichtet, alle Lebensmittel, die der Supermarkt bereitstellt, mitzunehmen. Was nicht mehr genießbar ist, zum Beispiel schimmeliges Obst, muss aussortiert und in den vom Supermarkt bereitgestellten Müllbehälter geworfen werden.
„Es kann schon mal bis zu einer Stunde dauern, bis man da alles durchsortiert hat. Es kommt immer darauf an, wie viel dort steht, wie viel man aussortieren muss und wie viele Foodsaver dabei sind“, erklärt Stüwe. „Anschließend muss man sich dann einigen, wer welche Lebensmittel mitnimmt.“
Auswahl ist immer groß: Viel Obst und Gemüse
Eine Garantie, welche Lebensmittel dabei sind, gibt es nicht – aber es ist immer genug und vielfältig: „Viel Obst und Gemüse, aber regelmäßig auch Brötchen, Laugenstangen, Donuts, Berliner. Fleisch und Milchprodukte sind auch dabei, aber unregelmäßiger. Joghurt kaufe ich manchmal zu und auch Aufschnitt und Butter.“
Aber auch Getränke, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, hat sie schon gerettet. Letztens zum Beispiel fast 90 Flaschen Eistee. Oder getrocknete Fruchtchips. Oder Mehl und Zucker. „Alles, wo die Verpackung beschädigt ist, wird ja nicht mehr verkauft.“ Schlitzt ein Supermarkt-Mitarbeiter also beim Auspacken der Mehlpaletten versehentlich die Packungen leicht an, landen diese im Müll - oder eben bei den Foodsavern. Eine besonders ergiebige Zeit waren die Feiertag zu Jahresende: „Ich habe die Kühltruhe so voll, dass ich monatelang kein Fleisch mehr kaufen muss.“ Ein Posten, den bei man den Ausgaben für Lebensmittel sonst natürlich stark spürt.
App sorgt für Überblick in der Tiefkühltruhe
Über eine App behält die Schwerterin den Überblick über die eingefrorenen Vorräte, jeweils vermerkt sind Portionsgröße und Datum: „Minutensteaks, 6 Stück, 400g; Hähnchenflügel, 400g; Rindersteak 200g; Regenbogenforelle, 260g“ steht da. „Die App erinnert mich auch, wenn die Lebensmittel zu alt werden, damit ich sie passend verbrauche. Ich versuche, nichts wegzuschmeißen.“
Damit hebt sie sich deutlich vom Durchschnitt ab: Jeder Deutsche wirft pro Jahr rund 80 Kilogramm Lebensmittel weg – im Wert von 230 Euro, so das Umweltbundesamt.
Da bei den Rettungsfahrten zu den Supermärkten immer viel zu viele Lebensmittel für einen Zwei-Personenhaushalt übrig bleiben, verteilt Anke Stüwe ihre „Beute“ an Familie, Freunde und den „Fair-Teiler“ der Lebensmittelretter in Schwerte. Die Gruppe engagiert sich ebenfalls gegen Lebensmittelverschwendung. In ihrer Verteil-Station an der Sonnenstraße kann sich jeder bedienen.
Aber viele der Lebensmittel bereichern auch den eigenen Speiseplan: „Was die Verwertung angeht, wird man erfinderisch.“ Viele Rezepte sucht sie sich auf der Seite vom Thermomix heraus. „Die haben eine Rezeptdatenbank, die man nach Zutaten durchsuchen kann, das ist mein Kochbuch.“ Entsprechende Apps gibt es von vielen Anbietern: Das Bundesministerium für Ernährung beispielsweise hat für die Kampagne „Zu gut für die Tonne“ eine Rezept-App entwickeln lassen.
Vielfältiger Speiseplan dank geretteter Lebensmittel
Dauerbrenner bei Anke Stüwe sind Brotchips: Laugenstangen, Baguette oder Brötchen in dünne Scheiben schneiden, dünn mit Kräuteröl (natürlich auch ein gerettetes Lebensmittel) einstreichen und ab in den Backofen. Aber auch Semmelknödel und einen Arme-Ritter-Auflauf gibt ihr Rezeptfundus her. Aus geretteten Kräutern werden Kräuterbutter oder Kräutersalz. Himbeeren sind Hauptbestandteil eines fruchtigen Balsamicos. Getrocknete Pfefferminze und Salbei wird zu Tee. Tomaten werden zu Nudelsoße oder Ketchup.

Aus Ingwer wird ein Sirup, aus Kräutern Würzsalze und Himbeeren werden zum fruchtigen Balsamico. © Jessica Will
„Früher habe ich auch viel Obst entsaftet, oder zu Smoothies verarbeitet, aber das ist weniger geworden.“ Dafür ist aktuell Ingwer-Sirup angesagt: „Ich hatte letztens ganz viel Ingwer, der dringend weg musste. Den Sirup gieße ich mit heißem Wasser auf, schmeckt super.“
Der Speiseplan hört sich vielfältig an: „Man lässt sich mehr auf Neues ein, schaut einfach spontan, was man aus den Lebensmitteln machen kann. Ich esse heute auch Gemüsesorten, die ich früher nicht gekauft habe.“ Dabei sei die Idee anfangs nur gewesen: „Ich will Lebensmittel vor dem Müll retten. Es hat mich dann schon überrascht, wie vielfältig das ist. Aber man wächst mit seinen Aufgaben“, sagt Anke Stüwe und lacht. Was sich sonst noch geändert hat, seit sie Foodsaverin ist? „Wenn ich doch mal was einkaufen muss, erschrecke ich mich jedes Mal, wie teuer Lebensmittel sind.“
INTERNETSEITE FOODSHARING.DE ERMÖGLICHT GROSSE REICHWEITE
2011 dreht Valentin Thurn den Film „Taste The Waste“. Das Thema Lebensmittelverschwendung wird dadurch stark diskutiert. Foodsharing-Vorreiter Raphael Fellmer beginnt damit, Lebensmittel aus den Tonnen verschiedener Bio-Supermärkten in Berlin zu retten. Im Januar 2012 schließt er die erste Kooperation mit einem Lebensmittelmarkt ab. Im Sommer 2012 kommt er in Kontakt mit Sebastian Engbrocks, der die Crowdfunding-Kampagne foodsharing organisiert. Die Online-Plattform foodsharing.de geht im Dezember 2012 an den Start. Die Internetseite ermöglicht allen Haushalten, aber auch Betrieben, das Teilen von überflüssigem Essen. Bis Frühjahr 2014 wächst das Netzwerk rasant: Bereits 500 Betriebe kooperieren und über 4.000 Foodsaver konnten bis dato über eine halbe Million Kilogramm Lebensmittel vor der Vernichtung bewahren. 2014 fusionieren die beiden Plattformen foodsharing.de und lebensmittelretten.de. Stand September 2018 retten etwa 42.000 Foodsaver regelmäßig Lebensmittel bei 4700 Kooperationsbetrieben wie Bioläden, Bäckereien, Getränkehändlern, Restaurants, Kantinen, Marktständen, Händlern, Supermärkten und vielen anderen Betrieben. Insgesamt wurden so über 17 Millionen Kilogramm Lebensmittel vor der Vernichtung bewahrt.1983 im Münsterland geboren, seit 2010 im Ruhrpott zuhause und für die Ruhr Nachrichten unterwegs. Ich liebe es, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, Fragen zu stellen und vor allem: zuzuhören.
