
© Martina Niehaus
Schwerterin (45) hat Long Covid: „Ich hoffe jeden Tag, dass es besser wird“
Coronavirus
Vor einem Jahr erkrankte Tanja Schreiner (45) an Covid-19. Noch heute geht es ihr schlecht. Die Schwerterin hat mit uns über ihre Erkrankung gesprochen. „Ich bin froh, dass ich noch lebe.“
Nein, jammern will sie nicht. Dafür ist Tanja Schreiner auch gar nicht der Typ. Die 45-jährige Schwerterin macht bei unserem Treffen den Eindruck, als sei sie grundsätzlich ein fröhlicher Mensch.
Denn obwohl sie seit ihrer Covid-Erkrankung vor rund einem Jahr immer noch nicht gesund ist, lacht sie gern. Dann sieht man kleine Lachfältchen in den Winkeln ihrer hellblauen Augen. Und Galgenhumor hat Tanja Schreiner auch. Zum Fototermin trägt sie einen Hoodie mit der Aufschrift „Herzlich willkommen im falschen Film“.
Der „falsche Film“ beginnt am 4. Dezember 2020
Der falsche Film, in dem sich Tanja Schreiner noch heute befindet, beginnt für sie am 4. Dezember 2020. Damals arbeitet die Sozialpädagogin in einem Pflegeheim für Senioren in Dortmund. Als sich mehrere Bewohner und Mitarbeiter mit dem Coronavirus infizieren, zeigt auch ihr Test ein positives Ergebnis an.
In ihrer Wohnung – damals lebt sie noch in Dortmund – begibt sie sich in Quarantäne. Ihre heute 16-jährige Tochter wohnt während der Quarantäne-Zeit bei Tanja Schreiners Ex-Mann. Heute sagt Tanja Schreiner: „Ich bin so froh, dass ich keine kleinen Kinder versorgen musste.“
Der Tee schmeckt wie Wasser: „Da wusste ich, was los ist.“
Denn schnell kommen die ersten Symptome. „Es begann ganz klassisch, mit Kopfschmerzen“, erinnert sie sich. „Aber das sind richtig fiese Kopfschmerzen, die ich so noch nicht kannte.“ Einen Tag später machen ihr Übelkeit und Bauchschmerzen zu schaffen. „Am dritten Tag bekam ich eine verstopfte Nase und Reizhusten. Ich habe mir einen Tee gekocht, und der schmeckte wie Wasser. Da wusste ich, was los ist.“

Bei ihrer Arbeit in einer Pflegeeinrichtung für Senioren infizierte sich die 45-Jährige mit dem Coronavirus. © Martina Niehaus
Zwei Wochen lang wechseln sich diese Haupt-Symptome ab. „Das war ganz irre. Die haben sich immer wieder vermischt.“ Ihre Familie ruft täglich mehrmals an, bringt etwas zu essen vorbei. Denn zum Kochen ist Tanja Schreiner nicht in der Lage. „Ich habe es kaum ins Bad geschafft. Ein Weg von fünf Metern kam mir vor, als wäre ich acht Stunden lang gewandert.“
Angst vor dem Krankenhaus: „Da wollte ich nicht hin“
Eines Nachts träumt sie, sie müsse sterben. Als sie mitten in der Nacht aufwacht, spürt sie ein „furchtbares Brennen in der Brust“. Von da an leidet sie unter extremer Kurzatmigkeit. Es geht ihr schlechter und schlechter. Der Notfallkoffer ist gepackt. Doch ins Krankenhaus will sie nicht. „Im Fernsehen liefen die Berichte über die vollen Stationen. Da wollte ich nicht hin.“
Also bleibt Tanja Schreiner zu Hause. Weil sie Angst hat vor dem Krankenhaus – weil sie aber auch nicht weiß, ob sie überhaupt dorthin gehört. „Es kam ja kein Arzt, der mir sagen konnte: Sie müssen ins Krankenhaus. Ich hätte nur selbst den Rettungsdienst rufen können.“
Zwei Wochen nach Krankheitsbeginn ist die Quarantäne offiziell beendet. Tanja Schreiner testet sich selbst. Wieder positiv. Sie bleibt weiter zu Hause. Weihnachten geht vorüber, dann Silvester. Insgesamt fünf Wochen lang dauert es, bis der erste Test negativ ist.
Alle Farben vermischen sich
Doch auch nach ihrer akuten Covid-Erkrankung geht es Tanja Schreiner nicht wirklich besser. Sie kann sich nicht mehr konzentrieren, ihr Tag-Nacht-Rhythmus ist gestört. Anfang Februar leidet sie an Glieder-, Muskel- und Gelenkschmerzen. Die Schmerzen sind so heftig, dass sie kaum laufen kann. „Ich dachte: Wenn mein Leben jetzt so aussehen soll, dann will ich nicht mehr leben.“ Doch sie gibt nicht auf, massiert die schmerzenden Beine, und läuft und läuft. 10.000 Schritte am Tag.

Tanja Schreiner geht gern an der Ruhr spazieren. Sie sagt: „Ich bin froh, dass ich noch am Leben bin.“ © Martina Niehaus
Im März bekommt sie Erinnerungslücken. Und verwechselt plötzlich Farben. „Ich konnte die Farbe Blau nicht mehr zuordnen und erkennen, dann kamen andere Farben dazu.“ Tanja Schreiner wird im Krankenhaus untersucht. „Bei einer Lumbalpunktion hat man Viren in meinem Gehirn gefunden“, erzählt sie.
Stricken? Gitarre spielen? Radfahren? Geht alles nicht.
Sechs Wochen lang, von Anfang April bis Mitte Mai, verbringt sie in Bad Driburg in einer Anschluss-Heilbehandlung. „Das hat mir wirklich geholfen.“ Dort lernt sie auch andere kennen, die ähnliche Verläufe durchmachen – oder schlimmere. „Eine 19-Jährige hatte so viele Entzündungsherde im Gehirn. Bei ihr war es so schlimm – als wenn sie dement wäre.“
Nach der Reha fühlt sich Tanja Schreiner erstmals wieder fit. Sie beginnt mit der Wiedereingliederung. Und merkt: Es ist zu früh. Die Symptome – 30 sind es insgesamt – sind geblieben oder bessern sich nur ganz allmählich.

Die Liste ist lang: Bis zu 30 Symptome treten bis heute immer wieder auf. Tanja Schreiner hat sie aufgeschrieben. © Martina Niehaus
Stricken und Gitarre spielen – ihre Hobbys vor Corona – kann Tanja Schreiner heute nicht mehr. Auch Radfahren ist schwer, wegen der Muskelkrämpfe. Die Gerüche sind nicht alle zurückgekommen – aber manchmal wacht sie nachts auf, weil sie Qualm riecht, der gar nicht da ist.
Ein hartnäckiger Reizhusten ist ihr ständiger Begleiter. Sie, die früher gern Witze erzählt hat, versteht heute Witze oder Zweideutigkeiten nicht mehr. Beim Lesen von Büchern wollen sich die Buchstaben manchmal nicht zu Wörtern verbinden. Und wenn jemand lange mit ihr redet, wird sie unruhig. „Wegen der Konzentrationsprobleme.“
Ein Wunsch ist erfüllt: Wohnen in Flussnähe
Doch Tanja Schreiner versucht es weiter. Lässt sie Wasser in die Wanne, klebt sie einen Zettel in Sichtweite: „Wasser abstellen“. Kocht sie etwas, stellt sie eine Eieruhr. Damit sie nicht vergisst, den Herd wieder abzustellen. „Meine Familie und Freunde waren und sind mir bei allem eine unheimliche Hilfe“, erzählt sie. „Dafür bin ich ihnen so dankbar.“

Galgenhumor – den braucht man manchmal. Seit einem Jahr befindet sich Tanja Schreiner im „falschen Film“. © Martina Niehaus
Anfang Oktober zieht sie nach Schwerte. Sie mag das Wasser, und von ihrer Wohnung aus ist man in fünf Minuten an der Ruhr. „Ich habe überlegt, das für mich zu machen.“ Und einen neuen Job wird sie auch zum Jahreswechsel antreten, in einem ambulant betreuten Wohnen. „Da habe ich mal ein Praktikum gemacht. Ich freu mich drauf.“
„Was hab ich ein Glück gehabt. Ich bin am Leben.“
Über Facebook tauscht sich die 45-Jährige mit anderen Betroffenen aus. Oft geht es um die Hilflosigkeit, Verständnis zu finden. „Viele denken, dass mit uns alles in Ordnung ist. Dann heißt es: Steiger dich mal nicht so da rein. Das habe ich auch schon gehört – von Menschen, die mich nicht so gut kennen.“
Mit den Menschen, die sie gut kennt, hat Tanja Schreiner jetzt das Weihnachtsfest verbracht. Mit ihrer Familie und ihren Freunden. Sie sagt: „Mein Gott, was hab ich ein Glück gehabt. Ich bin am Leben.“ Sie zeigt wieder ihre Lachfältchen. Denn das Lachen hat sie nicht verlernt.
Und sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass der „falsche Film“, in dem sie vor einem Jahr unfreiwillig gelandet ist, irgendwann einmal vorbei sein wird.
Begegnungen mit interessanten Menschen und ganz nah dran sein an spannenden Geschichten: Das macht für mich Lokaljournalismus aus.
