„Ich stille nicht“ Vanessa Hellweg (34) über Mom Shaming unter jungen Müttern

Flasche statt Brust - geht`s noch? „Ich stille nicht - und hab mich lange schlecht gefühlt“
Lesezeit

Muttermilch. Das Beste fürs Kind. Optimal zusammengesetzt, enthält sie besonders viele Abwehrstoffe. Gestillte Babys bekommen weniger häufig Allergien. Sie haben ein geringeres Risiko, an grippalen Infekten zu erkranken. Die bio-aktiven Substanzen der Muttermilch prägen das Immunsystem. Auch das Krebsrisiko ist reduziert. Und Stillen stärkt nachhaltig die Bindung zwischen Mutter und Baby. Ein „nicht nachahmbares Wunderwerk“, das ist die Muttermilch. Da sind sich alle einig: Die Weltgesundheitsorganisation WHO, das Forschungsdepartment Kinderernährung, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und das Netzwerk „Gesund ins Leben“. Muttermilch ist „Superfood“.

Mütter, die ihr Baby liebhaben, sollten es also besser stillen. Oder?

Was ist, wenn eine Mutter ihr Baby nicht stillen kann - obwohl sie es versucht hat? Was ist, wenn sie beim ersten Baby große Probleme beim Stillen hatte - und beim zweiten Kind sagt: Mein Kind soll die Flasche bekommen? Was ist, wenn sie einfach nicht stillen möchte?

Mütter, die sich gegen das Stillen entscheiden, brauchen heutzutage mehr als Milchpulver und ein Sterilisationsgerät für die Fläschchen: Sie brauchen gute Nerven. Unmittelbar nach einer Geburt ist das eine Herausforderung. Denn die ersten Wochen mit dem Baby sind in der Regel sehr stressig, die hormonellen Umstellungen sorgen dafür, dass Frauen sich auch emotional in einer Ausnahmesituation befinden.

Dabei beginnt das Problem eigentlich schon mit Verkündung der Schwangerschaft: Ab diesem Zeitpunkt ist der Grundsatz „Mein Körper gehört mir“ in den meisten Fällen Geschichte. Bekannte und fremde Menschen betasten unaufgefordert den schwangeren Bauch, geben Ernährungsratschläge oder erklären, welche Sport- und Freizeitaktivitäten ab sofort tabu sind.

Ist das Baby da, kommen zusätzlich andere Mütter ins Spiel. Sämtliche Entscheidungen, Rituale, Gewohnheiten werden von ihnen kritisch überprüft - und noch kritischer kommentiert. In Krabbelgruppen, im Stillcafé oder eben auch im Internet. Mom-Shaming nennt man das aktuelle Phänomen der Political Correctness , bei dem andere Mütter beschämt oder kritisiert werden, weil ihr Verhalten als falsch betrachtet wird.

Zerreißprobe

Das Thema Stillen polarisiert besonders. Das weiß auch Vanessa Hellweg. Die Schwerterin hat vor fünf Monaten ihren Sohn Alex zur Welt gebracht. Sie wollte gern stillen. Doch die ständigen vergeblichen Stillversuche wurden zur Zerreißprobe für ihre Nerven. „Ich habe ihn trotz großer Schmerzen immer wieder angelegt, aber es hat einfach nicht geklappt“, sagt die 34-jährige Lehrerin. In Internet-Foren und auf Instagram hingegen liest sie immer nur, wie toll und leicht es ist, zu stillen. Tenor: Wer nicht stillt, gibt sich einfach nicht genug Mühe.

Vanessa hat ein schlechtes Gewissen. Ihr Sohn verliert an Gewicht. Er schreit viel. Sie versucht, Milch abzupumpen. „Ich habe gehofft, dass ich es so überbrücken kann.“ Doch auch das klappt nicht. Nach drei oder vier Wochen gibt sie auf und steigt auf Flaschennahrung um. „Meine Hebamme hat gesagt: Du hast alles versucht. Trotzdem habe ich mich richtig schlecht gefühlt“, erzählt sie.

Blutende Brustwarzen

Das ist kein Wunder. Denn Müttern wird das Stillen nicht nur als gesunde Nahrung fürs Baby empfohlen. Immer schwingt auch Emotionalität mit. „Backen ist Liebe - Sanella ist Backen“ - ähnlich läuft es mit dem Stillen. In Werbespots und auf Produkten in Drogeriemärkten sieht man die harmonische Einheit. Das Baby nuckelt zufrieden, Mama streichelt ihm lächelnd über das kleine Köpfchen. Die Botschaft: Stillen verbindet und macht glücklich.

Was nicht zu sehen ist: Blutende oder aufgerissene Brustwarzen. Mütter, die bei jedem „Andocken“ ihres Babys vor Schmerzen wimmern. Mütter, die nicht glücklich lächeln, sondern verzweifelt sind. Oder völlig entnervt. Weil sich beim Thema Stillen eben auch viele Menschen einmischen. Verwandte, Bekannte - oder mitunter sogar Wildfremde.

Gaby Fiedler in ihrer Hebammenpraxis in Schwerte.
Gaby Fiedler in ihrer Hebammenpraxis in Schwerte. Sie unterstützt das Stillen - doch sie weiß: Wer es nicht kann oder will, hat dafür Gründe. © Martina Niehaus

Hebamme Gaby Fiedler aus Schwerte kennt das. Die 53-Jährige hat ihre inzwischen erwachsenen Söhne beide gestillt. „Damals bekam ich auch Kommentare zu hören, aber die gingen eher in die andere Richtung.“ Eine ältere Nachbarin habe ihr unaufgefordert gesagt, sie könne die Kinder doch mit Stillen unmöglich sattbekommen. Die Flasche sei besser. „Das war eine andere Generation“, sagt Gaby Fiedler.

Denn in den 70er-Jahren war das Füttern mit dem Fläschchen „in“. Man hielt es für gesünder, konnte die genaue Menge abmessen - und nicht zuletzt, so Gaby Fiedler, war das teure Fertigmilchpulver auch eine Statusfrage. „Man konnte sagen: Seht her, ich kann mir das leisten.“ Wer damals stillte, musste hingegen damit rechnen, schief angeguckt zu werden.

Beim Blättern in einem alten Ratgeber lacht die Hebamme auf. „Hier steht: Dem Kind schmeckt der Tee am besten, wenn er gesüßt ist. Wir empfehlen eine Prise gewöhnlichen Kochzucker.“ Auch die „Zwiemilchernährung“ ist vermerkt: Mixturen wie Vollmilch mit Schmelzflocken und Zucker, angeblich geeignet ab dem 3. Monat. „Solche Rezepte sind schon abenteuerlich“, sagt Gaby Fiedler.

Die alten Ratgeber sind heute überholt.
...und immer ein Löffelchen Zucker dazu. Die alten Ratgeber sind heute überholt. Säuglingsnahrung kann ein guter Ersatz für Muttermilch sein. © Martina Niehaus

Die Erkenntnisse sind heute glücklicherweise andere. Seit den 80er-Jahren geht der Trend zurück zur Natürlichkeit - und wissenschaftliche Studien haben erwiesen, dass Stillen gut für Mutter und Baby ist. Das sieht Gaby Fiedler auch so - und zählt einige der Vorteile auf. „Das Baby bekommt immer die richtige Menge Milch, die an jedem Ort sofort verfügbar ist, und die richtige Temperatur hat.“ Man muss also unterwegs nicht mit heißem Wasser und sterilisierten Fläschchen hantieren. Es gibt geeignete Stillmode. In der Muttermilch sind wertvolle Antikörper enthalten, die das Baby vor Infektionen schützen. „Und man darf nicht vergessen: Hochwertige Babynahrung ist nach wie vor sehr teuer.“

Auch für Mütter gibt es Vorteile: Die Gebärmutter bildet sich schneller zurück, die Periode setzt meist später wieder ein. Man verbraucht Kalorien ohne Ende, darf aber gleichzeitig „für zwei“ essen. Der Blutzuckerspiegel wird reguliert, und das Risiko für Krebsarten wie Gebärmutterhalskrebs oder Brustkrebs wird reduziert.

Gleichzeitig muss klar sein: Auch gestillte Babys entwickeln möglicherweise Allergien oder sind anfällig für Infektionen. Auch Mütter, die gestillt haben, können an Brustkrebs erkranken oder an Übergewicht leiden. Und es gibt viele ehemalige Flaschenkinder, die gesund und allergiefrei groß geworden sind. Hinzu kommt, dass sich auch die Industrie ständig weiterentwickelt. Gaby Fiedler: „In den heutigen, hochwertigen Produkten sind viele Stoffe enthalten, die für das Immunsystem oder eine gesunde Darmflora wichtig sind. Kinder werden also auch gut mit der Flasche groß.“

Die „gute Bindung“

Vanessa Hellweg denkt das auch. Sie ärgert sich vor allem über die Emotionalität, die mit dem Thema verknüpft ist. „Auf jeder Milchpulverpackung steht, dass Muttermilch die erste und beste Wahl ist.“ Nicht stillenden Müttern würde so ein schlechtes Gewissen gemacht.

Dann ist da das Argument mit der „guten Bindung“. So war das Baby von Vanessas Freundin nach der Geburt sehr leicht - man entschied sich fürs Zufüttern. Die Hebamme riet, das Kind trotzdem an die Brust anzulegen und die Zusatzmilch „heimlich“ per Schlauch zu verabreichen. Ansonsten könne die Mutter zum Kind keine gute Bindung aufbauen. „Meine Freundin war völlig fertig. Sie fragte mich, ob ich denn zu meinem Kind eine Bindung spüren würde.“

Die 34-Jährige findet solche Erlebnisse schrecklich. „Man ist als frische Mama sowieso durch den Wind - die Hormone hauen voll rein, man ist wegen vieler Dinge unsicher. Und dann hört man so was. Das hat mich echt sauer gemacht.“

Gaby Fiedler sagt dazu: „Der Hinweis auf Produkten der Nahrungsmittelindustrie, dass Stillen besser ist als Flaschennahrung, ist eine gesetzliche Regel.“ Auf jedem dieser Produkte müsse er stehen.

Und was die Bindung betrifft: „Es gibt Hormone, die beim Stillen ausgeschüttet werden, und bei der Mutter ein positives, beruhigendes Gefühl auslösen. Das sorgt ebenso wie der direkte Hautkontakt für eine gute Bindung.“

Doch jede Mama könne auch mit der Flasche in gemütlicher Atmosphäre und mit direktem Hautkontakt füttern. Jeder Papa auch - ein Vorteil, der an dieser Stelle genannt werden muss. Und genau wie es Mütter gibt, die dem Baby das Fläschchen nebenbei im Café „verpassen“, gibt es Mütter, die beim Stillen gelangweilt auf dem Handy scrollen.

Muttermilch ist gut fürs Baby - doch einzige Voraussetzung für eine gute Bindung darf das Stillen nicht sein.
Muttermilch ist gut fürs Baby - doch einzige Voraussetzung für eine gute Bindung darf das Stillen nicht sein. © Helena Lopes / Unsplash

Körperlich am Ende

Was viele zudem unterschätzen: Mütter, die gerade entbunden haben, sind körperlich am Ende. „Das sind ja tatsächlich Verletzungen“, sagt die Hebamme. Viele haben einen frisch vernähten Dammschnitt oder eine Kaiserschnittnarbe - jeder Toilettengang kann zur Qual werden. Sie sind erschöpft und müde. Manche können aus medizinischen Gründen nicht stillen, oder haben überempfindliche Brustwarzen. „Viele Mamas sagen mir auch, dass sie gern ein Baby haben wollten, die Zeit der Schwangerschaft aber schrecklich für sie war. Sie wünschen sich, dass ihr Körper wieder ihnen gehört.“

Gaby Fiedler darf man so etwas sagen - sie hat Verständnis, auch wenn sie das Stillen grundsätzlich befürwortet. Das ist nicht bei allen Hebammen so. „Manche fahren eine strikte Linie und betreuen Frauen, die sich bewusst gegen das Stillen entscheiden, nicht so gern.“ Das hält sie für unprofessionell. „Frauen sollten über ihre Gefühle offen sprechen dürfen.“

Vanessa Hellweg hat inzwischen akzeptiert, dass es mit dem Stillen nicht geklappt hat. Sie ist froh darüber, dass es heutzutage so gute Säuglingsnahrung gibt - „auch wenn sie tatsächlich ganz schön teuer ist.“ In der Familie habe sie ebenfalls großen Rückhalt erfahren. Sie und ihr Sohn Alex kommen wunderbar mit der Flaschennahrung klar. Der Kleine nuckelt an der Flasche, lacht, und wackelt mit den Zehen. Wenn die beiden eines haben - dann ist es eine richtig gute Bindung.

Damit unsere Gesellschaft nicht auseinanderbricht: Wir benötigen mehr Political Correctness!

Ein Kampfbegriff und seine Folgen: Political Correctness ist gefährlicher Quatsch!

Schwarzfahrer und „schwarzsehen“ rassistisch? Unfug!: Ein Kreuzzug selbsternannter Sprachwächter

„Lasse mir den Mund nicht verbieten“ : Leserreaktionen zu einer politisch korrekten Sprache

Zigeunersauce, Tagesmutter, Schwarzfahrer:: Wenn Allerweltswörter zum Problem werden