Wer war Heinz Mayer? Schüler aus Schwerte decken das Schicksal einer jüdischen Familie auf

Wer war Heinz Mayer? Schüler decken das Schicksal einer jüdischen Familie auf
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Vor fast genau 100 Jahren macht Heinz Mayer als jüdischer Oberprimaner des „Realgymnasiums zu Schwerte“ sein Abitur. Im Mai 1924 erhält Mayer sein Zeugnis, dessen Abschrift heute noch in einem Aktenschrank des Friedrich-Bährens-Gymnasiums (FBG) steht. In Betragen und Fleiß sind im Jahr 1924 „gut“ und „sehr gut“ vermerkt. Während Handschrift und Zeichnen nur „genügend“ sind, gibt es für alle anderen Fächer gute und sehr gute Noten.

Das bestandene Abi-Zeugnis – für heutige Abiturienten eine Etappe, die viele Möglichkeiten eröffnet. Die Möglichkeiten, die Heinz Mayer hatte, waren aufgrund seiner jüdischen Herkunft jedoch beschränkt. Der Geschichts-Leistungskurs (LK) der Q2, mit Schülerinnen und Schülern des FBG und des Ruhrtal-Gymnasiums, hat sich mit Lehrer Dr. Lars Reinking (49) auf eine Spurensuche begeben – und viel über das Schicksal des ehemaligen Mitschülers und dessen Familie erfahren.

Dr. Lars Reinking ist Lehrer am FBG in Schwerte. Er zeigt das alte Zeugnisbuch von 1924: Es liegt im Schul-Archiv.
Lars Reinking zeigt das alte Zeugnisbuch von 1924: Es liegt im Schul-Archiv. © Martina Niehaus

Kontakt zur Familie

Dabei durchforsteten Lehrer und Schüler das Schwerter Stadtarchiv. „Wir haben hier viel Hilfe bekommen.“ Auch das Buch „Ohne Meldung unbekannt verzogen“ des Schwerter Historikers Alfred Hintz war hilfreich. Ein absoluter Glücksfall bei der historischen Spurensuche war, dass Lars Reinking Kontakt zu den Nachfahren der Familie herstellen konnte: „Der älteste Sohn Heinz Mayers, Richard Mayer, hat oft mit uns gesprochen und geschrieben und uns Bildmaterial zur Verfügung gestellt. Er ist 81 Jahre alt und lebt auf Hawaii. Ein weiterer Sohn, Ronald, lebt in den USA.“

Schülerinnen und Schüler des FBG in Schwerte recherchieren im Stadtarchiv.
Die Schüler gingen auf Spurensuche im Stadtarchiv. © Christoph Harmata BENEFACTA.DE

Doch von vorn: Die Eltern des Oberprimaners, David und Berta Mayer (geb. Dieckhoff), betreiben Anfang des 20. Jahrhunderts in Schwerte eine Metzgerei Am Markt 7. Sie haben zwei Kinder: Hilda und den drei Jahre jüngeren Heinrich (Jahrgang 1907), den alle Heinz nennen. Die Metzgerei ist eine von vier Metzgereien in der Ruhrstadt. Der Vater ist sehr patriotisch, hat im Ersten Weltkrieg als freiwilliger Soldat gekämpft.

Ein Schwarzweiß-Foto zeigt Heinz Mayer aus Schwerte mit Schwester Hilda und Mutter Berta.
Heinz Mayer mit Schwester Hilda und Mutter Berta. © Archiv Richard Mayer

Lars Reinking sagt: „Die Tragik ist, dass Heinz sehr intelligent war und das Abi schaffte, obwohl er nicht aus einer Akademiker-Familie kam. Alles hätte ihm offenstehen können.“ Doch dann kommen die Nationalsozialisten an die Macht. Heinz Mayer, der nach seinem Abi Jura studiert, hat kaum Zugang zu Lernmaterialien. Der Zutritt zu Bibliotheken ist für Juden beschränkt. Trotzdem schließt er im Sommer 1933 sein Studium ab. Finnja, eine LK-Schülerin, erzählt: „Mit dem Bescheid über die gelungene Prüfung bekam er gleichzeitig die Mitteilung, dass er als Jude nicht praktizieren darf. Das muss schrecklich sein.“

Ein Schwarzweiß-Foto zeigt die ehemalige Metzgerei von David Mayer in Schwerte.
Die Metzgerei von David Mayer Am Markt 7: Auch nicht koschere Produkte wurden hier verkauft. © Archiv Richard Mayer

Weil er nicht als Jurist arbeiten darf, betreibt Mayer ein Büro als Rechtsberater – damals eine Nische für viele jüdische Juristen. Später arbeitet er als Leiter der Rechtsabteilung im Wittener Kaufhaus „Alsberg und Blank“. In seiner Freizeit treibt er gern Sport – er boxt und ist ein guter Leichtathlet. Doch auch hier werden die Einschränkungen immer größer. Im jüdischen Sportbund „Schild“ ist Heinz Mayer Bezirks-Sportleiter.

Ein Schwarzweiß-Foto zeigt Heinz Mayer aus Schwerte beim 200-Meter-Lauf in Gelsenkirchen, Juni 1935.
Sportlich war Heinz Mayer auch: beim 200-Meter-Lauf in Gelsenkirchen, Juni 1935. © Archiv Richard Mayer

Metzgerei in Schwerte verloren

Nach den Pogromen im November 1938 wird die Situation unerträglich. Die Eltern verlieren die Metzgerei – das Geschäft am Markt wird geschlossen und später anders genutzt. Heinz Mayer verliert ebenfalls seinen Job, da das Kaufhaus in Witten „arisiert“ und unter neuem Namen seiner deutschen Eigentümer (Neumann & Cropp) wiedereröffnet wird.

Sven Wolbek aus dem Geschichts-LK sagt: „Auch hier bekam er mit der Entlassung eine Empfehlung, dass er seine Arbeit immer gut gemacht hatte.“ Wenig später wird Heinz Mayer verhaftet und verrichtet daraufhin im Konzentrationslager Sachsenhausen sechs Wochen lang Zwangsarbeit. Er erleidet Erfrierungen an Fingern und Zehen. Besonders zynisch: Sogar nach der Haft, erzählt Reinking, habe Mayer eine Art Empfehlungsschreiben bekommen. Er sei ein guter Häftling gewesen.

Ein Schwarzweiß-Foto zeigt die Oberprima des „Realgymnasiums zu Schwerte“ 1924.
Die Oberprima des „Realgymnasiums zu Schwerte“ 1924. © Archiv Richard Mayer

Für die Schülerinnen und Schüler ist es ein bedrückendes Gefühl, dass sich niemand offen gegen die Ungerechtigkeiten und Gewalttaten gewehrt hat. Johannes Cleef sagt: „Das ist schon erschreckend, gerade wenn man heute beobachtet, dass sich viele Menschen wieder radikalisieren.“ Lars Reinking pflichtet seinen Schülern bei. „Es ist auch die Geschichte eines verhinderten Lebens. Heinz Mayer war in allem, was er tat, überragend – doch zu dieser Zeit war das vollkommen irrelevant.“

Ein Schwarzweiß-Foto zeigt Heinz und Ruth Mayer 1949 in Boston.
Heinz und Ruth Mayer 1949 in Boston. © Archiv Richard Mayer

Heinz Mayer fasst nach seinem KZ-Aufenthalt den lebensrettenden Entschluss: Er wandert in die USA aus. Auch hier gibt es viele Widrigkeiten – zunächst reist seine Verlobte Ruth nach Boston. Als Kindermädchen schafft sie eine finanzielle Basis, damit Heinz trotz strenger Einreisebestimmungen in den USA leben darf. Im Jahr 1940 besteigt Heinz Mayer in Rotterdam ein Schiff nach Amerika. Seine Eltern, die inzwischen in einem jüdischen Altenheim in Köln-Ehrenfeld untergebracht sind, muss er schweren Herzens zurücklassen. Kurz darauf flieht auch seine Schwester Hilda – erst nach Indien, später nach New York.

Aus Heinz wird in Amerika Henry Mayer. Er und Ruth bekommen zwei Söhne, Richard und Ronald. Zu alten Freunden aus Schwerte halten sie auch in den folgenden Jahren Kontakt – nach dem Krieg schicken sie sogar Care-Pakete an Freunde, denen es schlecht geht. Und in den 1960er-Jahren besucht Heinz Mayer seine alte Heimat Schwerte zusammen mit seinem älteren Sohn.

Ein Schwarzweiß-Foto zeigt Ruth und Heinz Mayer mit ihren Kindern Richard (l.) und Ronald.
Ruth und Heinz Mayer mit ihren Kindern Richard (l.) und Ronald. © Archiv Richard Mayer

Eltern nicht ermordet

Lars Reinking erzählt: „Wir haben vor einigen Wochen ein Video-Meeting mit Richard gehabt. Er hat sich sehr darüber gefreut, dass sich junge Menschen mit dem Thema befassen.“ Außerdem haben die Schülerinnen und Schüler des Geschichts-LKs etwas Besonderes herausgefunden: Sie kennen jetzt das Schicksal von David und Berta, den Eltern von Heinz und Hilda. „Auf den Stolpersteinen am Marktplatz steht, dass die Eltern und Schwester nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet wurden“, sagt Reinking. „Doch das stimmt nicht.“

Denn eine Anfrage in Köln ergibt: Obwohl das Kölner Altenheim 1942 komplett ausgebombt wurde, ist das Sterbebuch erhaltengeblieben. Darin sind die Sterbedaten vermerkt. Beide Eltern sind eines natürlichen Todes gestorben und wurden auf dem jüdischen Friedhof in Müngersdorf bestattet. Sie wurden also nicht – wie viele andere Patienten und Pfleger der Einrichtung – deportiert und ermordet. „Für die Familie ist das eine unheimliche Erleichterung. Es war eine sehr bewegende Situation, als sie es erfahren haben“, sagt Lars Reinking.

Am Markt 7 in Schwerte ist ein Friseurgeschäft.
Heute befindet sich ein Friseur in dem Gebäude, in dem früher die Metzgerei der Familie Mayer war. © Carolin West

Das Schicksal von Heinz Mayer und seiner Familie wird die Schülerinnen und Schüler noch weiter beschäftigen. Auch die Überlegung, die Stolpersteine zu erneuern, steht im Raum. Die Jugendlichen sagen: „Er war einer von uns.“ Sie glauben, jetzt noch besser zu verstehen, was damals passiert ist.

Der LK wird viele bisher unveröffentlichte Bilder und Dokumente zum Schicksal der Familie Mayer in einer Ausstellung zeigen, die am Mittwoch (24. Januar) um 17 Uhr in der Aula des FBG (Ostberger Straße 17) eröffnet wird. An dem Tag wird Richard Mayer von Hawaii aus ein digitales Grußwort senden. Das Projekt ist eingebettet in eine Wanderausstellung zu „Jüdischen Nachbarn in Rheinland, Lippe und Westfalen des frühen 20. Jahrhunderts“, die anlässlich des Holocaust-Gedenktags im Zeitraum vom 22. Januar bis zum 8. Februar gezeigt wird.

Die Ausstellung ist eigentlich schulintern. Wenn allerdings großes Interesse besteht, kann man sich gern per E-Mail bei Lars Reinking (lars.reinking@fbg.schwerte.de) melden.

Der Geschichts-LK der Q2 des FBG in Schwerte zeigt ein Plakat zur Ausstellung über Heinz Mayer.
Der Geschichts-LK der Q2 hat sich mit dem Schicksal von Heinz Mayer auseinandergesetzt. © Martina Niehaus

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