Missbrauch in der Familie
Anna (20) aus Schwerte wird als Kind von ihrem Stiefvater missbraucht
Der Vater ihrer Halbbrüder missbraucht Anna jahrelang. 2013 zum ersten Mal. Heute wissen die Brüder Bescheid – so kindgerecht wie eben möglich. Auch wenn Annas Kindheit das nie war.
Annas Großtante stirbt 2013. „Ich dachte bis dahin, das wäre das Schlimmste, was mir passieren kann“, sagt sie. Anna sitzt in der Redaktion, hält ein weißes DIN-A4-Blatt in der Hand. Nicht liniert, nicht kariert, es ist bloß weiß, ein wenig zerknittert. „Liebe Antonia“, steht darauf, geschrieben in Schreibschrift, etwas krakelig mit Kugelschreiber, „was ich getan habe, bedauere ich sehr.“
Der Brief ist von Annas Stiefvater. In sechs kurzen Sätzen entschuldigt er sich für das, was nur schwer zu entschuldigen ist. Der Tod von Annas Großtante ist im Nachhinein nicht das Schlimmste. Seit Anfang Januar sitzt ihr Stiefvater in der JVA, erst in Ergste, mittlerweile in Remscheid.
Weder Anna noch Antonia sind die richtigen Namen der jungen Frau aus Schwerte, um die es hier geht. Um sie und ihre Familie zu schützen, nennen wir sie im Folgenden Anna, sie nennt sich selbst bei ihrem tatsächlichen Zweitnamen. Antonia, die Anrede, die ihr Stiefvater in dem Brief benutzt, steht für ihren an dieser Stelle abgeänderten Erstnamen. Ihren tatsächlichen Erstnamen will die junge Schwerterin nicht mehr haben – „mein Name wurde missbraucht“. Die richtigen Namen, Erst-, Zweit- und Nachname, sind der Redaktion bekannt.
2013 fingen die Übergriffe an
Als die Großtante stirbt, ist Anna 12. Sie wohnt mit ihrer Mutter und den beiden jüngeren Halbbrüdern bei ihrem Stiefvater. Wieder. Es ist die Rückkehr nach dem ersten Auszug. Mutter und Stiefvater haben sich zusammengerauft, sind wieder ein Paar. Und das, was seitdem Annas Leben prägt, fängt an bei der gemeinsamen Arbeit auf dem privaten Grundstück der Familie im Sommer 2013. „In dem Jahr hat er mich sehr oft mitgenommen. Da fingen auch die ersten Übergriffe an.“ Anna wird Opfer sexuellen Missbrauchs.
Um welche Arbeiten es sich auf welchem Grundstück handelt, ist der Redaktion bekannt. Auch der Name des Stiefvaters. Genauere Umstände werden hier bewusst nicht genannt.
Heute ist Anna 20. In der Redaktion sitzt eine junge Frau, die offen über das redet, was passiert ist. Jahrelang ist ihr Stiefvater auf freiem Fuß. Der Prozess zieht sich hin. Anfang 2022 muss er seine Haftstrafe antreten. Zu zwei Jahren und vier Monaten hat das Gericht ihn verurteilt. 28 Monate „für ein Leben“, sagt Anna.
Anna aus Schwerte wird jahrelang von ihrem Stiefvater missbraucht. Das Mädchen auf dem Bild ist nicht Anna. © unsplash.com/Noah Silliman
Seit 2017 ist Anna in psychiatrischer Behandlung. Ende offen.
Sehr sorgfältig hat sie den zeitlichen Ablauf notiert, ihre Schrift ist weniger krakelig als die geschriebenen Worte ihres Peinigers. Es sind Eckdaten, an denen sie erzählt, was damals passiert ist. Das Ganze zu ordnen, das war der Impuls. Sie sitzt vor dem Buch, trinkt einen Schluck Cola, wirkt gefasst. Anna ist 2021 in ihre Ausbildung gestartet, hat eine eigene Wohnung in Schwerte und hat ihren Hund dabei, den sie zum Therapiehund ausbildet. Das treue Wesen tut ihr gut.
Aber Anna kämpft auch, wie sie sagt. Hat ihre Trigger-Momente, Panikattacken, ein Problem mit Menschen, die ihrem Stiefvater ähnlich sehen; an manchen Tagen ein Problem mit Nähe, berühren darf ihr Freund sie in den schwierigen Momenten nicht. Seit 2017 ist Anna in psychiatrischer Behandlung. Ende offen. Ihre Therapeutin nimmt ihr damals viel Angst. Und schließlich erstattet sie Anzeige. Da ist Anna 16 – und ihre Mutter und der Stiefvater sind endgültig kein Paar mehr.
2013: Die Zwölfjährige hat Angst, sich beim Duschen im Badezimmer einzuschließen, weil der Schlüssel zwischendurch klemmt. Ihr Stiefvater kommt manchmal herein, schließt ab, legt den Schlüssel auf den Türrahmen, kommt mit in die Dusche.
„Du bist bestimmt die Schönste in der Klasse“
„Das ist regelmäßig passiert“, sagt Anna. „Meinem Gefühl nach, jede Woche. Aber das ist nur ein Gefühl, ich weiß nicht, ob das stimmt.“ Sie hat verdrängt, kann sich nicht an alles erinnern. Was Anna sagen kann, ist, dass es nie zum Geschlechtsverkehr kommt zwischen ihr und dem damals 36-jährigen Mann.
Doch er kommt zu ihr ins Bett, legt sich auf sie, fasst sie an, am Busen, zwischen den Beinen. Will, dass auch sie sein Geschlechtsteil anfasst, unter der Dusche, mit Seife. „Du bist bestimmt die Schönste aus der Klasse. Und du hast bestimmt den größten Busen in der Klasse.“ Wenn sie etwas sagen will, droht er ihr: „Dann tue ich deiner Mama weh, deinen Brüdern weh.“ Anna fängt an, sich zu ritzen.
Sie erinnert sich an ihren ersten Kuss mit ihrem ersten Freund. „Ich habe das meiner Mutter erzählt. Es war wohl ein stolzer Mama-Moment und sie hat es meinem Stiefvater erzählt.“ Danach kommt er ins Zimmer, küsst sie, hält sie fest. Ob er in dem Moment Gefühle für das junge Mädchen hat, vielleicht sogar eifersüchtig ist? „Ich weiß es nicht“, sagt Anna. „Ehrlich gesagt, habe ich mir da noch nie Gedanken drüber gemacht.“ Letzten Endes ist die Motivation egal. „Das war schlimm“, sagt Anna. Und das Gericht gibt ihr Jahre später recht.
In den Augen des Strafverteidigers ist sie „eine pubertierende Zicke“
2017 erzählt sie ihrer Mutter von den Vorfällen, nicht alles. Alles weiß die Mutter bis heute nicht. „Sie hatte das letzte Urteil in der Hand, da steht schon einiges drin“, sagt Anna. Aber die beiden reden nur, wenn Anna das möchte.
Auf die Übergriffe angesprochen, wird ihr Stiefvater damals wütend, fängt an zu weinen. „In dem Moment wusste er, dass er Mist gebaut hat“, sagt Anna. Du hast das falsch verstanden, ich wollte dir nur zeigen, wie lieb ich dich habe. „Das war das erste und letzte Mal, dass wir irgendwie darüber gesprochen haben.“
Als Anna das erste Mal vor Gericht aussagt, lehnt er sich zurück, macht die Hände hinter den Kopf und hört ihr zu. Drei Stunden lang. Ein psychologisches Gerichtsgutachten wird erstellt. Kann es stimmen, was die Jugendliche sagt? Die Gutachterin kommt zu ihr nach Hause, macht Tests mit Anna. In den Augen des Strafverteidigers ist sie nur eine „pubertierende Zicke, die versucht, die Beziehung zu zerstören“.
Geständnis in sechs Sätzen
In dem Brief mit den sechs Sätzen richtet sich der angeklagte Schwerter später direkt an seine Stieftochter. Es ist ein Geständnis:
Liebe Antonia!
Was ich getan habe, bedauere ich sehr. Es tut mir von ganzem Herzen leid. Ich kann mir mein Fehlverhalten dir gegenüber selbst nicht erklären. Die von dir erlittenen Nachteile betrüben mich besonders und ich bitte dich um Verzeihung und ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst. Wenn ich dir bei der Aufarbeitung helfen kann, werde ich das immer tun. Ich hoffe sehr, dass wir in Zukunft irgendwann wieder normal miteinander umgehen können.
Viele Grüße.
Nein, sie gehen nicht normal miteinander um. Obwohl sich Anna und ihr Stiefvater in den letzten Jahren immer mal wieder über den Weg gelaufen sind. Die Halbbrüder, seine Söhne, holt er vor seinem Haftantritt regelmäßig bei der Mutter ab. „Bevor er im Januar ins Gefängnis musste, waren sie zwei Wochen bei ihm, er hat sie abgeholt, kam mir mit eingezogenem Kopf entgegen, wir haben nicht ein Wort gewechselt, er meidet mich sehr“, sagt Anna.
Mit dem Brief bietet die Gegenpartei ihr damals zusätzlich 2.000 Euro an – als Entschädigung, eine Art Täter-Opfer-Ausgleich, um die Sache zu vergessen. „Die 2.000 Euro habe ich bekommen, eigentlich wollte ich das Geld nicht haben, ich brauche kein Schmerzensgeld, nur Gerechtigkeit“, sagt Anna. Die damalige Hoffnung ist, dass das Verfahren so schneller beendet wird. „Ich wollte nicht jahrelang unter der offenen Verhandlung leiden. Und er hat gehofft, dass sein Urteil milder ausfällt.“
Die Brüder wissen Bescheid – „so kindgerecht wie möglich“
Der Stiefvater geht in Berufung, legt nach einem weiteren Urteil Revision ein. Am Ende pocht er auf einen offenen Vollzug, doch der Arbeitgeber spielt nicht mit. Nun sitzt er ein. Die Brüder wissen, was passiert ist, „so kindgerecht wie möglich“, sagt Anna. Kindgerecht war ihre eigene Kindheit in diesen Jahren nicht.
Der Jüngere weint in den ersten Tagen viel, weil der Papa jetzt weg ist. Und Anna fragt sich: Hast du jetzt überhaupt das Richtige gemacht? Hast du den Brüdern jetzt mehr wehgetan, als du ihm wehgetan hast? Doch der kleine Bruder nimmt sie in den Arm, erzählt Anna. Sagt ihr, dass er sie liebhat. Seinen Söhnen würde er niemals etwas antun, da ist sich die 20-Jährige sicher. Warum also ihr? Vielleicht spielt es keine Rolle mehr.
Namensänderungsverfahren beim Kreis Unna
Es ist ein komisches Gefühl, aber ein „komisch gutes Gefühl“, dass die Verhandlung Jahre nach der Anzeige ein Ende hat. Ein Ende hat das, was Anna als junges Mädchen erlebt, damit aber nicht. Zwischendurch, sagt sie, müsse sie sich auf offener Straße von Fremden beleidigen lassen. Das seien Leute, die von der Familie ihres Stiefvaters gehört hätten, dass das doch alles nicht stimme. Anna spricht von Lügen, falschen Aussagen. Sie selbst muss Schritt für Schritt gehen, in der Hoffnung, dass die Zeit ein paar der Wunden heilt.
Beim Kreis Unna läuft ein Namensänderungsverfahren, damit Anna und ihr Stiefvater bald nicht mehr denselben Nachnamen tragen. Vielleicht, sagt sie, möchte sie ein Buch schreiben und eine Selbsthilfegruppe gründen für missbrauchte Kinder, Frauen und Männer.
Ein selbst gezeichnetes Tattoo bedeckt ihren Unterarm, es ist neu und verdeckt die Stellen, an denen sie sich als Jugendliche geritzt hat. Viele kleine Wunden, sichtbar auf der Haut. Neun Wochen war Anna im vergangenen Jahr in der Tagesklinik. Die seelischen Wunden wird sie nicht einfach übermalen können.
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