
Nino ist die Fotografin der Familie, von daher hat sie nicht viele Bilder von sich. Eine Polaroid-Aufnahme von sich hat sie doch noch gefunden. © Nino Beleshadze
Ihre Welt in Schutt und Asche: Am Tag, an dem der Krieg ausbrach, war Nino neun Jahre alt
Kaukasuskrieg 2008
2008 eskalierte die Gewalt zwischen Georgien und Russland. Eine Studentin der Ruhrakademie, die heute in Dortmund lebt, war damals 9 Jahre alt. Sie kennt das Leid, das die Menschen in der Ukraine erfahren.
Nino (Nina ausgesprochen) Beleshadze ist eine unscheinbare Frau. Ihre dunkelbraunen Haare sind locker zu einem Dutt geknotet, sie trägt ein hellblaues Kleid mit Blumen und ihr Herz in der Hand. Sie lächelt viel, auch wenn sie an diesem Tag von schrecklichen Dingen erzählt.
Aufgewachsen in der Hauptstadt Georgiens
Aufgewachsen ist sie in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens. In einem, wie sie es nennt, „Italienischen Haus“: große Bauten mit großen Wohnungen, und davon viele. Sie erinnert sich an die Gemeinschaft, die es dort gab. Die Kinder spielen auf der Straße und die Mütter trinken gemeinsam Kaffee.
Da ist sie, die Gastfreundschaft, die sie an ihrer Heimat so schätzt. In Deutschland sei das anders, hier muss man sich erst verabreden, einen geeigneten Zeitpunkt und Ort finden. In Georgien könne man jederzeit bei jedermann vorbeischneien, egal ob um zwölf Uhr am Mittag oder um zwei Uhr nachts.
Heute studiert sie Fotografie in Schwerte-Westhofen
Nachdem sich ihre Eltern trennen, als sie vier Jahre alt ist, verbringt sie die meiste Zeit bei ihren Großeltern. Ihre Großmutter ist Kunsthistorikerin und arbeitet im Museum, häufig nimmt sie das Mädchen mit zur Arbeit. Sie wächst auf mit Besuchen in Theatern und Kinos und Museen.
Kaum verwunderlich also, dass sie eines Tages Fotografie studieren wird. Bei unserem Treffen zeigt sie einige ihrer Bilder. Zwischen dem jungen Mädchen, das im Museum spielt, und der jungen Frau, die heute vor einem sitzt, liegen Welten.

Georgische Weinberge im Winter. © Nino Beleshadze
Die Welt in Schutt und Asche
Vor allem liegt dazwischen ein Krieg. 2008. Nino war da neun Jahre alt. Sie war mit ihren Großeltern in einem Ferienhaus auf dem Land. Als der Krieg ausbrach, erzählt sie, waren sie vielleicht 20 Minuten, vielleicht weniger, von der Front entfernt. Sie hörte die Flugzeuge über ihr und die Explosionen in der Ferne, die gar nicht so fern war. Sie wusste nicht, was da gerade passierte. Verstand es nicht.
Ihre Eltern kamen, um Nino und ihre Großeltern in Sicherheit zu bringen. Nino lag im Fußraum des Autos, den Kopf nach unten. Ihre Mutter wies sie an, nicht nach draußen zu schauen. Sie sah trotzdem etwas von dem, was sich abspielte. Sah Tote auf den Straßen liegen. Ihre Welt in Schutt und Asche. Als sie zuhause in Tiflis waren, schloss die Neunjährige alle Vorhänge, machte die Lichter aus und betete. Dass sie in Sicherheit war. Dass alles gut werden würde.

Kloster Bodbe ist ein Kloster in der georgischen Region Kachetien, in der Munizipalität Sighnaghi. Das Frauenkloster liegt zwei Kilometer entfernt von der Kleinstadt Sighnaghi. Nach der Überlieferung wurde das Kloster dort errichtet, wo die heilige Nino begraben wurde. © Nino Beleshadze
Heute erzählt sie von diesen Erlebnissen, als wären sie unendlich fern. Als sei es eine Geschichte, die sie in einem Buch gelesen hat. Vielleicht ist es die Abgeklärtheit über Dinge, die kein Kind jemals erleben sollte, die niemand jemals erleben sollte. So wie wir von Tagen am Meer erzählen, erzählt sie von dem Tag, als der Krieg ausbrach.
Kaukasus-Krieg oder 5-Tage-Krieg:
- Die abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien im Norden Georgiens werden seit den 1990er-Jahren durch Russland in ihrem Unabhängigkeitsbestreben unterstützt.
- Der lange brodelnde Konflikt schlug im August 2008 in Gewalt um. Russland legitimierte den militärischen Eingriff als „Gegenmaßnahme“ gegen eine „georgische Militäroffensive“.
- Der gewaltsame Konflikt dauerte 5 Tage an. Etwa 65.000 Menschen flüchteten vor der Gewalt.
- Weitere Informationen finden Sie auf dem Infoportal östliches Europa der Landeszentrale für politische Bildung.
Mit neun Jahren verstand sie nicht, was sie an diesem Tag gesehen hatte. Was die Hintergründe waren. Warum sie diese schrecklichen Stunden und Tage durchleben musste. Sie wusste nichts von der langen Geschichte des Konfliktes der abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien im Norden ihres Landes. Sie wusste nichts von den geopolitischen Interessen Russlands. Sie war ein Kind, das den Tod gesehen hatte, in seiner schrecklichsten Erscheinungsform.
Viele Kinder in Georgien lernen in der Schule Russisch. Ninos Oma hielt sie dazu an, das auch zu tun. Um die großen Autoren auch im Original lesen zu können. Doch für das Mädchen war die russische Kultur nichts Erstrebenswertes mehr. Mit dem Krieg war sie zu etwas geworden, dessen Bekanntschaft sie schlichtweg nicht machen wollte.
Sie lehnt nicht die Menschen in dem Land ab, sagt sie, sie lehnte das Gedankengut der Regierung ab. Immer wieder betont sie in unserem Gespräch, dass Russland sich die Dinge einfach nehme, obwohl sie ihnen nicht gehörten. Das sei etwa der Fall mit den Regionen im Norden ihres Landes.

Zemo Kedi in der Region Kachetien: Dieses Dorf liegt an der Grenze zu Aserbaidschan. Gerade wird eine georgische Kirche gebaut, in der Zwischenzeit dient das weiße Gebäude auf der rechten Seite als Gebetsraum. Nino fiel dieser Ort im Vorbeifahren mit dem Auto auf. © Nino Beleshadze
Vor sieben Jahren folgte Nino dann ihrer Mutter nach Deutschland. Heute lebt sie in Dortmund-Berghofen und studiert an der Kunstakademie in Schwerte-Westhofen Fotografie. Vorher hatte sie eine Ausbildung als Krankenschwester angefangen, doch ihr fehlte das Kreative. Es ist der Einfluss ihrer Großmutter – auch wenn nicht einmal sie Nino vom Russisch-Lernen überzeugen konnte.
Das Essen und die Gastfreundschaft vermisst Nino
Was sie am meisten an ihrer Heimat vermisst? Schwierig. Die Gastfreundschaft vielleicht. Aber das Essen sei auf jeden Fall auch dabei. Auf ein Lieblingsessen kann sie sich nicht einigen. Hauptsache ohne Fisch, den mag sie nicht. Ein georgisches Restaurant in Dortmund habe ihr allerdings nicht so gut gefallen. Das Essen sei nicht so gut wie in der Heimat gewesen. Russische Musik hätte sie während des Essens im Hintergrund gehört, sagt sie: „Wir haben so viel eigene Kultur.“ Warum man nicht auch georgische Musik spielen könne, sei ihr ein Rätsel.

„Dieses Bild hab ich im Lopota Lake Resort & Spa in Georgien gemacht“, erzählt Nino. „Das ist wirklich ein wunderschönes Hotel mit schönen Ausblicken.“ Das Foto entstand am Fenster eines Restaurants, „in dem wir richtig leckeres georgisches Essen hatten“. © Nino Beleshadze
Auch den russischen Supermarkt meidet sie, obwohl es dort auch georgische Produkte zu kaufen gibt. Ihre Mutter sagt, es gehe ums Prinzip. Nino ist nicht die einzige, die noch die Narben von 2008 auf der Seele trägt.
Was bleibt, ist die Angst
Als sie vor kurzem wieder die Heimat besuchte, machte sie Bilder für ihre Diplom-Arbeit. Die Überlegung, an die Grenze zu fahren und dort Bilder zu machen, verwarf sie nach der Reaktion ihrer Verwandten. Ob sie verrückt geworden sei. Die Angst davor, dass der Konflikt wieder zu brodeln beginnt, sei ständig da. Sie war nie weg, diese Angst. Das Vertrauen in die eigenen Politiker fehlt, sagt sie. Sie gehören für Nino zu denen, die sich Russland aus Angst vor seiner Größe zu Füßen werfen. Anders als in der Ukraine, wie sie meint.
Was dort passiert, kann sie auf eine Weise nachvollziehen, wie es die meisten Menschen in Deutschland nicht können. Denn sie kennt einen Teil des Leides, den die Menschen dort erfahren. Sie kennt einen der Kriege Russlands von Innen. Insbesondere um die Kinder sorgt sie sich. „Da sind so viele Kinder, die jetzt ohne Vater aufwachsen müssen.“