Am 7. Juli 2021 erblickt der kleine Tayo per Kaiserschnitt das Licht der Welt. Für die Hagenerin Jennifer Kalweit (27) ist es bereits das dritte Kind. Doch anders als bei den bisherigen Entbindungen klagt die junge Mutter im Aufwachraum eines Iserlohner Krankenhauses diesmal über starke Schmerzen in der linken Wade, später auch im Oberarm. Die zuständigen Ärzte verabreichen Kalweit eine Thrombose-Spritze und entlassen die Mutter und ihren Sohn zwei Tage später aus dem Krankenhaus.
Alles von vorne
24 Stunden später bemerkt die alleinerziehende Mutter von drei Kindern, dass ihre Sicht verschwimmt. Besuche bei Hausärzten, Diabetologen und später auch Augenärzten helfen nicht. Drei Monate nach der Entbindung erkennt sie nur noch Umrisse. Seit November 2021 ist Jennifer Kalweit vollständig erblindet – das Leben der Hagenerin und ihrer Kinder ist seitdem nicht mehr dasselbe.
„Es hat sich eigentlich alles verändert“, sagt die 27-Jährige. „Ich kann zwar noch laufen und sprechen, aber ansonsten muss ich ganz von vorne anfangen, wie ein Kleinkind.“ Um den Alltag als alleinerziehende Mutter zu bewältigen, ist sie auf ständige Hilfe angewiesen. Auch die Erziehung der Kinder habe sich verändert: „Vorher haben wir viel über Augenkontakt kommuniziert. Jetzt muss man auch die Verständigung neu lernen.“
Unterstützung aus Schwerte
Hilfe bekommt die dreifache Mutter von den Mitarbeitern des Schwerter Unternehmens für Haushaltshilfe A&M-Services. Eigentlich ist das Unternehmen von Mareike Angermüller kein Pflegedienst im klassischen Sinne. Angermüller und ihre Mitarbeiter bieten in der Regel übergangsmäßig Hilfe im Haushalt nach Krankenhausaufenthalten, Unfällen oder ähnlichem an. „Der Kontakt zu Frau Kalweit ist in jeder Form besonders für uns“, erklärt Angermüller. „Da zunächst nicht klar war, wie sich die Blindheit entwickelt, fing die Betreuung als normale Krankenkassenleistung an.“
Als abzusehen ist, dass eine Besserung nicht in Sicht ist, setzt sich die Unternehmerin aus Schwerte gemeinsam mit Jennifer Kalweit und verschiedenen sozialen Trägern an einen Tisch, um eine bestmögliche Lösung zu finden. Seitdem unterstützen die Mitarbeiter von A&M-Services die Familie 12 Stunden am Tag als „sehendes Auge“. „Auch wir mussten uns erst mal neu ordnen und setzen uns immer wieder neu zusammen, um das weitere Vorgehen gemeinsam abzusprechen“, berichtet die Geschäftsführerin.
Ein „sehendes Auge“
Für die Betroffene ist die Hilfe von Angermüllers Mitarbeitern ein den Umständen entsprechender Glücksgriff: „Ich habe über verschiedene Pflegedienste den Kontakt zu Frau Angermüller erhalten, weil ich vorher keinen Erfolg hatte. Als ich dort angerufen habe, ging dann alles sehr schnell und freundlich.“ Im März arbeite man mittlerweile ein Jahr zusammen. Der Tagesablauf von Kalweit und ihrem „sehenden Auge“, Petra W., orientiere sich dabei ganz an der Betreuung der drei Kinder.
„Um 8 Uhr fängt die Unterstützung von Petra an, da ist die achtjährige Tochter schon in der Schule“, berichtet Kalweit. „Dann sucht sie Kleidung für die Kinder heraus und zieht sie an.“ Wenn der mittlere Sohn in der Kita ist, wird gemeinsam mit dem Jüngsten gefrühstückt und alles gemacht, was im Haushalt ansteht. „Bei gutem Wetter gehen wir danach oft gemeinsam spazieren.“ Für die Kinder sei die Situation immer noch unbegreiflich. „Im Umgang hat sich alles verändert, vor allem bei meiner großen Achtjährigen.“
Sehbehinderung irreversibel
Auch nach fast eineinhalb Jahren des völlig veränderten Lebens möchte die dreifache Mutter nicht von Gewöhnung sprechen. Klar ist für sie, dass eine Welt zusammengebrochen sei, als sie erfahren habe, dass sie Blindenhilfe beantragen soll. „Nach dem ersten Schock habe ich mir versucht einzureden, dass alles wieder wird. Doch wenn man merkt, wie die Hoffnung langsam wegstirbt, wird es immer schlimmer.“
Ende Januar 2023 erfährt Jennifer Kalweit bei einem Besuch beim Augenarzt, dass ihre Sehbehinderung irreversibel sei. „Danach fasste ich den Entschluss, meine Geschichte zu erzählen.“
Ärztekammer prüft den Fall
Eine genaue Bezeichnung für ihre Sehbehinderung gebe es nicht. Sicher sei nur, dass es eine sehr seltene Komplikation sei. „Im November 2021, also kurz vor der Erblindung, war ich neurologisch bedingt in einem Krankenhaus, wo keine Auffälligkeiten festgestellt wurden.“
Während der Schwangerschaft mit dem kleinen Tayo sei es aber zum dritten Mal zu einer sogenannten Schwangerschaftsvergiftung gekommen, die zu Schwangerschaftsdiabetes geführt habe. „Bei der ersten Schwangerschaft ging es noch ohne, seit der zweiten wurde mir dann Insulin verabreicht.“
Wie genau die Begutachtung des Falles weitergeht, ist für die Hagenerin und Mareike Angermüller noch nicht absehbar. Im Zuge der Betreuung bleibe man weiter in Kontakt mit den sozialen Trägern. Jennifer Kalweit und ihre Kinder sollen natürlich auch in Zukunft bestmöglich unterstützt werden.
Momentan prüfe die Ärztekammer, wie es zu den Komplikationen gekommen sein könnte. Dass die Schwangerschaftsdiabetes zur Erblindung geführt hat, sei nach Aussage ihrer Fachärzte zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlossen. Jennifer Kalweit und ihre Kinder warten derweil auf eine Entschädigung.
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