
© Berthold Fehmer
Millionen-Deals mit langfristigen Folgen: Gemeinde kauft Leitungsnetze
Leitungsnetze
Die Gemeinde Schermbeck will die Mehrheit an ihren Leitungsnetzen zurückkaufen - beim Gasnetz schon in diesem Jahr. Die Millionen-Deals werden langfristige Folgen haben.
Die Gründung der Gemeindewerke Schermbeck GmbH und Co. KG hat der Rat am 20. April 2021 mit großer Mehrheit beschlossen. Die Verträge sind fertig, aber es stehen noch das kommunalrechtliche Anmeldeverfahren sowie die Prüfung durch das Bundeskartellamt aus.
Erfolgt die Zustimmung, soll laut Bürgermeister Mike Rexforth die Kommunale Infrastrukturgesellschaft noch im dritten Quartal 2021 gegründet werden. Sie soll 51 Prozent der Geschäftsanteile der Gemeindewerke halten. Die anderen 49 Prozent hält die Gelsenwasser Energienetze (GWN) GmbH, die derzeit im Besitz des Gasnetzes ist, das seit den 1980er-Jahren aufgebaut wurde. Dass er auch „mit einem weinenden Auge“ diese Entwicklung sehe, gibt GWN-Geschäftsführer Christian Creutzburg zu.
Paradigmenwechsel
Es ist der Startschuss zu einem Paradigmenwechsel: Bislang überließ die Gemeinde Firmen die Netze, mit sämtlichen Rechten und Pflichten. Und ließ sich dabei, man muss es so deutlich sagen, viel Geld durch die Lappen gehen. Was nun passieren soll, ist für Rexforth „eines der spannendsten Themen meiner bisherigen Amtszeit“, da die Entscheidung jahrzehntelang Auswirkungen auf die Gemeinde haben wird.

Jan Paul Hagedorn (vorne l.) und Hubert Große-Ruiken (vorne r.) sollen Geschäftsführer der zu gründenden Gemeindewerke Schermbeck werden; (hinten, v.l.): Christian Creutzburg und Ulrich Linnenbrink (beide Gelsenwasser) sowie Bürgermeister Mike Rexforth. © Berthold Fehmer
Zwei Geschäftsführer sollen die Gemeindewerke Schermbeck leiten.
Jan Paul Hagedorn (43), selbst Schermbecker und GWN-Betriebsleiter, für den technischen Bereich sowie Hubert Große-Ruiken als Vertreter der Gemeinde Schermbeck für den kaufmännischen Bereich.
„Wir haben es nicht bereut“
Letzterer bringt als Stadtkämmerer Dorstens viel Erfahrung in die Thematik ein. Denn in Dorsten wurde eine ähnliche Gesellschaft 2013 gegründet. Die Mehrheit beim Gasnetz wurde 2018 übernommen und beim Strom ist dieser Schritt für 2023 geplant. „Wir haben es nicht bereut“, sagt Große-Ruiken. Er lobt Schermbeck für den Mut, diesen Schritt jetzt zu gehen, auch wenn er für kleine Kommunen schwieriger sei als für große. „Es ist kompliziert.“
Bei der Neugründung komme viel Arbeit auf die Geschäftsführer zu, viele Termine und Zeit seien notwendig, so Rexforth, der deshalb weder sich selbst noch Kämmerer Frank Hindricksen in diese Position bringen wollte. Große-Ruiken will am 30. September 2021 in Dorsten als Stadtkämmerer ausscheiden. „Ich bin bald nicht mehr so gebunden“, sagt er. Dennoch habe er lange gezögert, sich dann aber entschlossen, die Herausforderung anzunehmen: „Bis 2025 würde ich mir das zutrauen.“ „Lukrativ ist das nicht“, stellt Rexforth klar - trotz hoher Verantwortung.
Ein elfköpfiger Aufsichtsrat, der aus fünf Mitgliedern der GWN und sechs aus Schermbeck (ein Verwaltungsmitglied und je ein Vertreter der Ratsfraktionen) besteht, wird die Gemeindewerke kontrollieren.
„Kein Wettbewerb oder Preiskampf“
Trotz der Millionen-Investitionen in die Netze gibt es laut Rexforth kein Risiko für die Gemeinde. Tätig wird sie nämlich nicht in wettbewerbs-dominierten Bereichen wie Erzeugung/Einkauf oder beim Vertrieb, sondern ausschließlich im Bereich Transport, also der Verpachtung von Netz-Infrastruktur. Dieser Bereich ist reguliert - es gibt also vorgeschriebene Entgelte, „keinen Wettbewerb oder Preiskampf“, so Große-Ruiken. Durch die Verpachtung sind stabile Einnahmen für die Gemeinde zu erwarten - für die Kunden ändere sich nichts.
Da die Gemeinde Schermbeck aktuell einen mittleren einstelligen Millionenbetrag an Liquidität besitzt, zahlt sie derzeit Strafzinsen. Derzeit tendiere die Verwaltung dazu, den Kauf der Gasnetze (70 Kilometer, 2.000 angeschlossene Haushalte) aus der Liquiditätsreserve zu bezahlen, so Rexforth. Über konkrete Summen schweigen sich die Beteiligten aus. Statt 0,5 Prozent Strafzinsen erwartet Rexforth 4 bis 5 Prozent Zinsertrag. „Wir erzielen Erträge und verbrennen es nicht“, so Rexforth über das Geld der Steuerzahler.
Mit dem Erwerb der Gasnetze will die Gemeinde auch die Energiewende vorantreiben. Wasserstoff, Fernwärme oder Stromtankstellen nennt Große-Ruiken als Beispiele. Rexforth nennt das Thema Ölheizung: Gehe diese 2026 kaputt, dürfe man sich keine neue mehr einbauen lassen. Am Lichtenhagen beispielsweise liege keine Gas- und keine Wasserleitung - deshalb wolle man dort frühzeitig mit den Anwohnern sprechen.
RWW wird kein „Fachpartner“
Stichwort Wasser: Eine ähnliche Zusammenarbeit wie mit Gelsenwasser wird es mit der Rheinisch-Westfälischen Wasserwerksgesellschaft nicht geben. „Weil es nach den Vorstellungen der Gemeinde nicht mehr passte“, so Rexforth. Ende 2021 laufe der Wasserkonzessionsvertrag aus - alle Wasserversorger könnten sich bewerben. Die Stelle des „Fachpartners“, den beim Gas Gelsenwasser übernimmt, sei beim Wasser nicht besetzt.
Beim Strom hingegen ist die Sache klar. Bis Ende 2029 läuft hier der Konzessionsvertrag, doch mit Westenergie konnte sich die Gemeinde einigen. Hierzu wurde am Montag eine Zusatzvereinbarung zum Konzessionsvertrag geschlossen. Diese besagt, dass die Gemeinde im Jahr 2025 das Recht erhält, die Gründung einer Stromnetzgesellschaft von Westenergie zu verlangen - ähnlich wie es nun mit Gelsenwasser beim Gasnetz passieren soll.
„Wenn man was abgibt, klatscht man nicht in die Hände“, sagt Kommunalbetreuer Dirk Krämer von Westenergie. Geplant ist, dass die neue Stromnetzgesellschaft, wenn eine vorherige Prüfung die Wirtschaftlichkeit bestätigt, am 1. Januar 2026 starten wird. Eine Pflicht dazu ergibt sich für die Gemeinde Schermbeck nicht.
Verzicht auf Millionensumme
Westenergie verzichte durch die Vereinbarung auf einen siebenstelligen Betrag, so Rexforth, der sechsstellige Summen pro Jahr für den Schermbecker Haushalt durch die Verpachtung der Hunderte Kilometer langen Stromleitungen erwartet. Als Garantie-Verzinsung für das eingesetzte Kapital, das für den Kauf der Netze eingesetzt werden soll.
Warum hat sich Westenergie darauf eingelassen? Das Geschäft, so Gerd Mittich, Leiter der Region Rhein-Ruhr, sei bei Westenergie langfristig ausgelegt. Man plane nicht nur bis 2030, sondern in Richtung 2040 oder 2050. Gemeinde und Unternehmen seien „gute und faire Partner“, betont Krämer. Es seien „Gespräche auf Augenhöhe“ gewesen.
Langfristige Planung
Langfristige Planung ist auch erforderlich, wenn es um neue Wohnbau- und Gewerbegebiete geht. So müsse beispielsweise Ladeinfrastruktur für E-Mobilität frühzeitig auch seitens der technischen Voraussetzungen im Netz bedacht werden, so Rexforth. Deshalb umfasst die Zusatzvereinbarung auch, dass sich Gemeinde und Unternehmen frühzeitig in ihre strategischen Planungen einbinden.
Das Unternehmen stellt zudem Messwerte aus dem Stromnetz der Gemeinde zur Verfügung. Regelmäßige Fach- und Energietage sind geplant in Bereichen E-Mobilität/Ladeinfrastruktur, Energieeffizienzmaßnahmen und Fördermöglichkeiten. Auch soll ein Energiebeirat gegründet werden, der für Impulse in Sachen Klimaschutz und E-Mobilität sorgen soll. Rexforth: „Energiewende muss man wollen.“
Berthold Fehmer (Jahrgang 1974) stammt aus Kirchhellen (damals noch ohne Bottrop) und wohnt in Dorsten. Seit 2009 ist der dreifache Familienvater Redakteur in der Lokalredaktion Dorsten und dort vor allem mit Themen beschäftigt, die Schermbeck, Raesfeld und Erle bewegen.
