Es ist 27 Jahre her, dass Stephan Oberkönig und seine damalige Ehefrau sich dazu entschließen, ein Kind aufzunehmen. „Wir machten dann den dafür nötigen Elternführerschein“, blickt Stephan Oberkönig im Podcast „Blond mit Ansatz“ zurück. Nachdem sie den Test erfolgreich abgeschlossen hatten, begann die Warterei.
„Der Tag kommt, der Tag geht. Und immer weiter so. Und dann geht plötzlich das Telefon“, beschreibt Stephan Oberkönig den Moment, als das Jugendamt das Paar anrief. „Guten Tag, wir haben ein Kind für sie“, hieß es damals. „Es ist anders als bei einer Schwangerschaft, bei der es einen errechneten Geburtstermin gibt, auf den du dich einstellen kannst. Da ändert sich das Leben rapide.“
Als die Zwillinge dreieinhalb Jahre alt waren, gab es Gewissheit
Sie hätten nur erfahren, dass es Zwillinge seien und sie ein halbes Jahr alt sind - mehr nicht. „Mit der Zeit merkten wir, dass sie nicht mit anderen Kindern auf einer Höhe waren. Das Krabbeln ging nicht so wie bei anderen, Verzögerungen in der Entwicklung zeigten sich.“ Flori und Tobi waren dreieinhalb Jahre alt, als die Eltern in der Kinderklinik in Datteln Gewissheit erhielten. „Ein Test ergab, dass sie körperlich und geistig behindert sind. Wir wussten auch, dass die Jungs in dem halben Jahr, bevor sie zu uns kamen, schlechte Dinge erlebt haben. Sie haben gehungert, das steckt noch heute in ihnen drin.“

Wie sie als Eltern auf diese Diagnose reagiert haben? „Da hat sich ein Schalter umgelegt. Es war für uns klar: Das sind unsere Kinder“, sagt der 55-Jährige. Das „unsere“ betont er. „Da ist etwas, das dein Leben bereichert. Machen wir das Beste draus.“
Es sei schwierig gewesen, wenn Freunde von den Erfolgen ihrer gesunden Kinder erzählten. „Da sitzt du und kannst nicht mitreden. Da bist du ein Fremdkörper“, erinnert sich Stephan Oberkönig.
Seine Stimme wird ernst, als er von dem Interesse der Waltroper Kindergärten erzählt, die ihre Jungs aufnehmen wollten. „Alle wollten sie haben. Ist ja klar, weil es für die Betreuung von behinderten Kindern einen anderen Verteilungsschlüssel gibt, mehr Personal eingestellt werden kann. Das gibt mehr Geld.“
Es folgte der Umzug in einen „Behinderten-Kiga“, wie es Stephan Oberkönig ausdrückt. „Da begann die Abkapselung“, klagt der Waltroper, der mittlerweile auch mit seiner neuen Frau und seiner vierjährigen Tochter in Olfen lebt, an.
„Wer meine Söhne nicht haben will, hat in meinem Leben keinen Platz“
Gefragt nach der Reaktion des Umfeldes, sagt Stephan Oberkönig unmissverständlich: „Wer mich kennt, der weiß, dass ich mich nicht zurückziehe. Ich habe die Jungs überall hin mitgenommen. Wer meine Söhne nicht will, hat in meinem Leben keinen Platz.“ Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass halb Waltrop Flori und Tobi kennt. Mit Stolz und Zuneigung in der Stimme erzählt der Familienvater weiter: „Für die Beiden ist Waltrop ein Freizeitpark: Alle kennen sie. Wenn sie oben in die Fußgängerzone reinlaufen, kommen sie unten satt und mit mehr als zuvor in den Taschen wieder raus.“
Stephan Oberkönig, der Geschäftsführer der Firma „Geile Warenautomaten“ ist und Vorsitzender des Fußball-Vereins Teutonia SuS Waltrop, erinnert sich an einen anderen Moment, der ihm das Herz aufgehen ließ. „Flori wollte einen Freund besuchen. Ich sagte ok, ich fahre dich hin, zurück kommst du zu Fuß – der Freund wohnte zwei Straßen weiter. Ich klärte ab, dass ich angerufen werde, bevor er losläuft. Ich habe mich dann hinter einem Baum versteckt und ihn beobachtet. Er war keine zwei Minuten unterwegs, da hielt ein Auto. ‚Mensch Flori, was machst du denn hier alleine? Komm‘ steig‘ ein, ich bring‘ dich zu Mama und Papa.‘“

Aber er habe auch gemerkt, dass Menschen aufstöhnten, wenn sie die Jungs entdeckten. „Sie haben das Bedürfnis, Menschen in den Arm zu nehmen und zu drücken. Aber das mögen nicht alle. Man kann ihnen das aber auch sagen.“
Stephan Oberkönig erzählt von dem Hotelbesitzer im Ski-Urlaub, der statt des Besuchs der Kinderbetreuung vorschlug, eine spezielle Pflegekraft zu engagieren, die sich um die Jungs kümmern würde. Da fragte ich, wo denn? Er sagte, in einem Nebenraum. Pures Entsetzen, ein Anwalt wurde eingeschaltet.
Stephan Oberkönig ist vehementer Verfechter von Inklusion, die aus eigener Erfahrung aber nicht funktioniere. „Warum zum Beispiel liegen Schulen für Menschen mit Behinderung am Rande einer Stadt? Warum nicht wie die anderen Schulen in der Stadt? Ah, da ist noch ein Gebäude frei, da können sie rein. Das ist nicht nur eine räumliche Trennung.“
Gefragt nach einer Vision, sagt Stephan Oberkönig: „Es bringt nichts, in einer Klasse 25 vermeintlich gesunde Kinder zu haben und eines mit Handicap. Die ‚Gesunden‘ werden von dem einen Kind ausgebremst, es wird das Bauernopfer. Das würde ich auch nicht sein wollen. Ich schaue da nach Skandinavien. Dort gibt es eine Klasse mit Kindern mit Behinderungen, eine weitere ohne. In der Pause treffen sich alle Schüler in der Pause. Sie begegnen sich, und lernen den gemeinsamen Umgang miteinander von klein auf.“
„Daran merkt man, dass Inklusion nicht funktioniert“
Trotz der überwiegenden herzlichen Begegnungen mit vielen Menschen in Waltrop gebe es aber auch bestürzende Momente. „Jetzt wird es emotional“, sagt Stephan Oberkönig in dem Podcast. „Da kommst du abends von der Arbeit nach Hause. Dein Kind liegt auf der Couch, schaut dich an und sagt: ‚Papa, ich will nicht behindert sein.‘ Da stehst du dann da. Und jetzt? Bei solch einer tiefgründigen Aussage merkt man, dass Inklusion nicht funktioniert.“
Absolut dankbar ist er seiner jetzigen Frau: „Sie hat das Gesamtpaket geheiratet. Und sie macht das großartig.“
Mittlerweile haben sich die Wege der heute 24 Jahre alten Jungs räumlich getrennt. „Flori wohnt in einer Wohnstätte. Aus ihm ist eine ganz andere Persönlichkeit geworden. Er hat schon einen Spendenlauf organisiert und konnte 5000 Euro spenden. Denn er hat gesagt, ‚Papa, ich muss anderen helfen.‘ Und das sagt einer, der selbst Hilfe braucht.“
Tobi dagegen habe sehr unter Corona gelitten, ihm fehlte der menschliche Kontakt sehr. Eine Psychologin verschrieb ihm Tabletten, von denen er sehr zugenommen hat, was ihn sehr stört. „Florian hat es geschafft, Tobias wird es auch noch schaffen.“

Gefragt nach Forderungen an die Politik, nennt Stephan Oberkönig drei Punkte: „Die Bürokratie muss deutlich heruntergefahren werden. Warum muss ich jedes Jahr beweisen, dass meine Jungs behindert sind? Zudem muss ihre Mobilität gewährleistet werden. Und: Die Menschen müssen unterstützt werden. Wir haben Kontakte, ein tolles Netzwerk. Was aber tun die Menschen, die die nicht haben?“
Zum Abschluss formuliert Stephan Oberkönig noch einen Gedanken: „Das Schönste ist: 90 Prozent der Menschen mit Behinderung sind im Geist und in der Liebe frei – ohne ein falsches Spiel zu spielen. Davon können wir alle lernen.“
„Blond mit Ansatz“
Der Podcast „Blond mit Ansatz“ erscheint jeden zweiten Donnerstag. Die beiden Protagonistinnen sind Nina Marten und Sandra Neitemeier, „meine beste Freundin“, sagt Stephan Oberkönig. Aufgenommen wurde der Podcast im August 2023, Folge 27 mit Stephan Oberkönig ist überschrieben mit dem Titel „Inklusion“.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien bereits am 22. Januar 2024.
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