
© Sylvia vom Hofe
Vergessen in Olfen: Was Franz Wiesmann tat für den Freiherrn vom Stein
Olfener Geschichte
Die Bruchbude, deren Dach Mitte Juni eingestürzt ist, steht am Olfener Marktplatz: ehemaliger NKD, altes Kino, Haus Nölke. Als Geburtshaus eines großen Olfeners kennt sie kaum jemand.
Die Nacht vom 28. auf den 29. Juni 1831 ist ruhelos: viele durchwachte Stunden, immer wieder schütteln fürchterliche Hustenanfälle den Freiherrn auf Schloss Cappenberg. Dann quält ihn Luftnot. Dass das nicht nur Symptome irgendeiner schweren Erkältung sind, sondern Anzeichen des nahen Todes, ist Heinrich Friedrich Karl vom Stein überaus klar. Schon eine Woche zuvor hatte er sein Ableben angekündigt. Lange wird es nicht mehr dauern. Bis es an diesem Tag vor 190 Jahren so weit sein wird, weicht ein Olfener nicht von seiner Seite. Er zählt zu den gefragtesten Ärzten Westfalens seiner Zeit und wird sich auch noch als Krankenhaus-Gründer, Geschichtsschreiber und Wohltäter einen Namen machen. Dennoch ist er in seiner Heimatstadt fast völlig in Vergessenheit geraten.
Weder Straßennamen noch Gedenktafel
Dr. Franz Wiesmanns Auszeichnungen füllen mehr als zwei Din-A-4-Seiten: von der Bestellung zum Sanitätsrat bis zur Verleihung der ersten Ehrenbürgerschaft der Stadt Dülmen. In Olfen, wo er am 3. November 1800 geboren wurde und später auch mehr als fünf Jahre praktizierte, erinnert jedoch nichts an den Leibarzt eines der bedeutendsten Staatsreformer in der deutschen Geschichte.

Das ehemalige Kino von Olfen am Marktplatz. Von vorne ist nicht zu sehen, dass das Gebäude eingestürzt ist. Auch seine Bedeutung als Geburtshaus von Franz Wiesmann ist nicht zu erkennen. © Günther Goldstein
Keine Straße ist nach Wiesmann benannt, kein Kapitel in der Stadtchronik ist ihm gewidmet. Er taucht dort nicht einmal als Fußnote auf. Eine Tafel an der Wand seines Geburtshauses am Marktplatz? Fehlanzeige. Das Haus ist unter anderen Namen bekannt: als ehemaliges Geschäft NKD, als erstes und einziges Kino der Stadt oder als Haus Nölke, wie der Kinobetreiber hieß. Dass das Gebäude seit zwei Jahren im Eigentum der Stadt ist, hat daran nichts geändert. Jetzt ist es zu spät.
Mitte Juni war das Obergeschoss des leerstehenden Gebäude zusammengebrochen: eine Bruchbude, die auf ihren Abriss wartet. Die Stadt will dort einen Neubau errichten lassen mit Gastronomie im Erdgeschoss und Wohnungen darüber. Doch die Corona-Krise hatte sie diese Pläne erst einmal auf Eis legen lassen: eine Galgenfrist, um das zusammengestürzte Gebäude doch noch in Verbindung zu bringen mit dem Namen Wiesmann. Dafür setzen sich Heimatforscher Bernhard Wilms vom Olfener Heimatverein und seine Mitstreiter Peter Dördelmann und Theo Watermeier ein. Sie haben ihm auf dem digitalen Stadtrundgang eine Station gewidmet.
Vom Stein entschuldigt sich auf dem Sterbebett
Zurück in den kühlen, regnerischen Sommer des Jahres 1831: Am Morgen des 29. Juni, ein Mittwoch, sammelt der Freiherr noch einmal seine Kräfte. Er lässt seine Bediensteten zusammenrufen. Was der 73-Jährige ihnen vom Krankenbett aus sagt, ist dank seiner Hausdame Fräulein Schröder überliefert. Sie schrieb es zwei Tage später an Steins Schwägerin Luise von Rottenhann. Der Freiherr, der nicht nur als prinzipientreu und durchsetzungsstark galt, sondern bisweilen auch als aufbrausend und jähzornig, habe seine Leute „wegen seiner Heftigkeit um Verzeihung“ gebeten. Er dankte ihnen und und bat „gleiche Treue und Liebe seinen Kindern zu erweisen“. Außerdem habe er letzte Verfügungen wegen seiner Beerdigung getroffen. Sein Testament hatte er bereits elf Jahre zuvor gemacht.
Pastor Blume aus Lünen ist da. Er reicht dem protestantischen Eigentümer des einst katholischen Klosters Cappenberg das Abendmahl. Der legt sich daraufhin auf die linke Seite und schlummert röchelnd ein: ein Schlaf, von dem es kein Erwachen mehr geben wird. Zwischen 17.45 und 18 Uhr stirbt der Freiherr. Dr. Wiesmann wird als Diagnose „Lungenaffektion bedingter Schlagfluß“ angeben. Machen konnte er da nichts mehr - anders als in den Vorjahren.

Dr. Wiesmann, Hausarzt des Freiherrn vom Stein. Mit diesem Foto aus dem Archiv des LWL erinnert der Heimatverein Olfen an den in seiner Heimatstadt fast vergessenen Mediziner. © LWL-Medienzentrum für Westfalen
Als der pensionierte Minister und Staatsreformer 1816 nach Cappenberg zieht, ist er 59 Jahre alt: ein energiegeladener Mann, der sich nicht nur mit Eifer der Sanierung der vernachlässigten alten Klosteranlage inklusive Stiftskirche und Park widmet. Auch politisch ist er weiter aktiv, obwohl der Wiener Kongress seinen Traum von einem vereinigten Deutschland mit Verfassung und garantierten Freiheitsrechten für jeden Einzelnen erst einmal zunichte gemacht hatte.
Einer der größten Grundeigentümer Olfens
Stein pendelt zwischen seinem Anwesen in Nassau und Cappenberg hin und her, pflegt Kontakte in Frankfurt und Berlin und hält engen Austausch mit den Großen seiner Zeit: dem Dichter Goethe, dem Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt oder Ludwig von Vincke, dem Vater der Provinz Westfalen. Seit dem Tod seiner Ehefrau Wilhelmine 1818 kränkelt auch vom Stein. Da ist es gut, dass Franz Wiesmann in der Nähe ist: in Olfen, einer Stadt, mit der vom Stein besonders eng verbunden ist. Und seine Nachfahren sind es auch noch 200 Jahre später.
Im Tausch gegen seinen Besitz Birnbaum in Posen hatte vom Stein vom preußischen Staat nicht nur Cappenberg erhalten. Auch der Oberhof zu Olfen mit 484 Morgen Land (121 Hektar) ist an ihn gefallen. Bei der Säkularisierung, der Aufhebung des geistlichen Grundbesitzes, war das Olfener Kernland verstaatlicht worden, das 889 Bischof Wolfhelm aus Olfen, dem ersten Sachsen auf dem Bischofsstuhl, gehörte und seit 1265 Eigentum des Domkapitels Münster war. Der Freiherr vom Stein wurde damit einer der größten Grundeigentümer Olfens.
Keine 20 Kilometer sind es von dort nach Cappenberg. Wiesmann legt diese Strecke zuletzt immer öfter zurück. Seit der jüngsten Krise hat er sich sogar im Schloss Cappenberg einquartieren lassen. Selbst nach dem Tod vom Steins hat er dort noch zu tun. Auf Wunsch des Staatsmannes muss er den Leichnam einbalsamieren.
Leiterin des Medienhauses Lünen Wer die Welt begreifen will, muss vor der Haustür anfangen. Darum liebe ich Lokaljournalismus. Ich freue mich jeden Tag über neue Geschichten, neue Begegnungen, neue Debatten – und neue Aha-Effekte für Sie und für mich. Und ich freue mich über Themenvorschläge für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen.
