Seit Jahren warten verzweifelte Eltern vergeblich auf einen Wohnplatz für ihre geistig behinderten Kinder. Kurz nach der Berichterstattung über sie meldet sich jemand, der helfen will.
Seit fünf Jahren und teilweise noch länger warten sie auf einen Wohnheimplatz für ihre erwachsenen, schwerbehinderten Kinder: Rita Tuschmann aus Nordkirchen, Katharina Vortmann aus Cappenberg und fast 40 weitere Eltern aus dem Kreis Coesfeld und der nächsten Nachbarschaft.
Wahrscheinlich sind es noch wesentlich mehr, aber diese Mütter und Väter haben sich zusammengeschlossen zur Initiative Wohnplatzsuche. Den anderen fehle vermutlich die Zeit und die Kraft, sich neben der Rund-um-die-Uhr-Pflege ihrer Kinder noch zu engagieren, sagten die Frauen im Gespräch mit dieser Redaktion. Sie kämpfen für das Recht ihrer Töchter und Söhne auf einen selbstbestimmten Aufenthaltsort - ein Kampf gegen Windmühlen wie es scheint. Jetzt hat sich ein Mitstreiter bei der Redaktion gemeldet.
Caritasgeschäftsführer: „Ich habe Verständnis für die Eltern“
„Ich habe großes Verständnis für die Eltern“, sagt Christian Germing, seit einem Jahr Leiter des Caritasverbandes des Kreises Coesfeld. In den Werkstätten des Verbandes, etwa in Nordkirchen, könne er jeden Tag beobachten, wie groß der Bedarf ist nach Wohnplätzen für Menschen mit geistiger Behinderung. Von den etwa 700 Männern und Frauen lebten noch rund 300 zuhause: bei den Eltern oder anderen Verwandten.

Christian Germing ist seit September 2018 Geschäftsführer des Caritasverbandes. © Martina Niehaus
Wenn die einmal aufgrund des Alters oder eigener Gebrechen nicht mehr könnten, gebe es wohnortnah kein Angebot für eine Alternative - und das, obwohl der Kreis Coesfeld nach Angabe des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) mit stationären Plätzen deutlich überversorgt ist. 1199 Plätze in Wohnheimen: Das sei tatsächlich die größte Dichte mit stationären Plätzen in Westfalen-Lippe, bestätigt Germing. Und das bei nur 675 Leistungsbeziehern aus dem Kreis. Mit anderen Worten: Die Plätze sind vornehmlich belegt mit Menschen aus anderen Kreisen, zum Teil sogar anderen Bundesländern.
Das habe etwas mit der Tradition der örtlichen Einrichtungen zu tun, erklärt Germing. Stift Tilbeck bei Havixbeck wurde bereits 1881 gegründet, das Katharinenstift in Dülmen ist fast 100 Jahre alt und die Marienburg/Haus Hall in Coesfeld noch älter: alles große Einrichtungen mit einer Konzentration von stationären Plätzen, die heute nicht mehr zeitgemäß erscheint.
Das Ziel: stationäre Plätze abbauen
Es sei der klare Wunsch der Verantwortlichen, Wohnheimplätze abzubauen und dafür ambulante Plätze zu schaffen, bestätigt Germing. Die Umsetzung hat längst begonnen. Lebten laut LWL 2003 noch 70 Prozent der Menschen mit Behinderung in einem Wohnheim, seien es jetzt nur noch 43. „Zum Normalfall wird, dass auch der behinderte Mensch in seiner eigenen Wohnung lebt und die notwendige Unterstützung ambulant und bedarfsgerecht bekommt“, hat LWL-Sozialdezernent Matthias Münning mitgeteilt. Diesen Normalfall sehen die Eltern der Initiative für ihre mehrfach behinderten Kinder nicht. Da gehe es nicht ohne 24-Stunden-Betreuung.
„Das kann tatsächlich nicht sein“, sagt Germing: Auf der einen Seite Plätze abzubauen und auf der anderen Seite Menschen abzuweisen, die genau solche Plätze suchten - das passe nicht zusammen. „Wir hätten gerne zusätzliche stationäre Plätze“, sagt der Caritas-Geschäftsführer - und wenn es nur für eine Übergangszeit sei.
Wohngruppe entsteht im Haus Westermann
Der Caritasverband ist im Vergleich mit den großen Stiftungen der kleinste Anbieter an stationären Plätzen im Kreis. 136 sind es in Ascheberg, Lüdinghausen und Olfen. Die Caritas plant gerade zwei neue Angebote, die absolute Mangelware im Kreis sind. Wohngemeinschaften für Erwachsene mit geistiger Behinderung: eine im Haus Westermann in Nordkirchen mit acht Plätzen und eine in Lüdinghausen mit 12, alles zusätzliche Plätze, wie er betont. Bei einem anderen Vorhaben ist das nicht so.
Das 30 Jahre alte Caritas-Wohnhaus in Ascheberg entspreche nicht mehr den aktuellen Anforderungen und werde aufgegeben. Dafür wird bis 2022 Ersatz geschaffen: 24 Plätze in Nordkirchen im Baugebiet Große Feld 3 und 24 in Ascheberg selbst. Weitere 24 sind später in Olfen geplant, „aber da sind wir noch nicht so weit.“ Vor dem Hintergrund, dass künftig Menschen von Heimen in ambulante Wohnformen wechselten, gebe es unterm Strich zusätzliche Plätze, so Germing - aber zu wenige, um die momentane Nachfrage zu decken.
Wie die Umverteilung besser gelingen kann
Das Angebot des Caritasverbandes: zumindest vorübergehend zusätzliche Wohnheimplätze aufbauen. Dafür braucht es aber das grüne Licht des LWL. Der Verband sowie die ihn lenkende Landschaftsversammlung, also das sogenannte Westfalenparlament, verfolgen aber genau gegenteilige Ziele: mehr ambulant und immer weniger stationär. Eine solche Umverteilung läuft, laut Germing, in die falsche Richtung. Eine Umverteilung, die den Bedürfnissen der Eltern und Kinder eher gerecht würde, wäre wenn kurzfristig neue stationäre Plätze entstünden.
Die Menschen wieder wegzuschicken, die vor Jahrzehnten von auswärts in den Kreis Coesfeld kamen und jetzt hier Fuß gefasst haben, komme genauso wenig in Frage, wie junge Leute aus der Region - die Kinder der Elterninitiative - jetzt in andere Kreise und Bundesländer zu schicken.
Familie Tuschmann, Familie Vortmann und die anderen, die für ihre Kinder seit Jahren händeringend einen Wohnheimplatz suchen, haben am 26. August ein Gespräch mit Vertretern des LWL. Ob das Caritas-Angebot dabei ein Thema sein wird?
Leiterin des Medienhauses Lünen Wer die Welt begreifen will, muss vor der Haustür anfangen. Darum liebe ich Lokaljournalismus. Ich freue mich jeden Tag über neue Geschichten, neue Begegnungen, neue Debatten – und neue Aha-Effekte für Sie und für mich. Und ich freue mich über Themenvorschläge für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen.
