Wenn Opa und Enkel gemeinsam im Chor singen
Männerchor Cäcilia Cappelle 1919
Wer donnerstags etwas unternehmen möchte mit Freunden aus Capelle, muss damit rechnen, sich reihenweise Absagen einzufangen. Das sollte aber niemand persönlich nehmen, denn es hat musikalische Gründe. Denn vom Trend des Chorsterbens in NRW ist hier nichts zu spüren, ganz im Gegenteil.
Donnerstagabend kurz nach 20 Uhr im Saal der Gaststätte Wintering an der Bahnhofstraße. Rund 40 Männer stehen im Halbkreis vor Hans W. Schumacher. Nur ein mit Notenblättern bedecktes Klavier trennt ihn von den anderen. Das Instrument mit den weißen und schwarzen Tasten ist aber im Moment noch Nebensache. Denn es gilt erst einmal, das Instrument zu stimmen, das jeder dabei hat: den eigenen Körper.
Aufwärmen ist genauso wichtig wie beim Sport
Alle legen eine Hand auf den Bauch, etwas unterhalb des Nabels. „Und einatmen“, sagt Dirigent Schumacher. Die Bäuche wölben sich – die der ganz schlanken Jungen genauso wie die der schon etwas fülligeren Herren. „Jetzt ausatmen.“ Die Bäuche ziehen sich wieder ein – die meisten zumindest. Alles passiert lautlos, konzentriert. Wer sich vernünftig aufwärmt – das wissen die Männer hier, von denen mehrere aktive Fußballer sind – , kann mehr leisten: auch stimmlich. Der Männergesangsverein Cäcilia Capelle singt nicht umsonst in der oberen Liga. Alte Herren und Aufsteiger aus der Jugend – alle bilden einen Chor. Die Stimmlage entscheidet, wer an welcher Stelle steht: erster Tenor, zweiter Tenor, erster Bass oder zweiter Bass. Das Alter ist da Nebensache.
„Das ist doch gerade das Schöne“, sagt Heinz Ringelkamp. Der 82-Jährige ist seit 1953 aktiver Sänger – Rekord. Rechts neben ihm steht das jüngste Mitglied des Vereins: Nico Trahe (15), sein Enkel. Eins weiter hat Schwiegersohn Thomas Trahe seinen Platz, mit 46 Jahren etwa im Altersdurchschnitt. „Uns macht das allen Spaß“, sagt der Opa und nickt den beiden Jüngeren der Familie zu.
„Doch das stimmt tatsächlich“, bekräftigt Nico. Zugegeben, beim ersten Mal, irgendwann im Frühjahr, sei er nur mitgekommen zur Probe, um dem Opa eine Freude zu machen. „Dann war ich aber hier und fand es richtig gut.“ Alle duzten sich, die Stücke hätten Pep, und die ganze Sache sei ziemlich herausfordernd.
„Die Menschen machen und mögen Musik.“
„Das ist jetzt nicht euer Ernst“, sagt Hans W. Schmumacher und guckt vorwurfsvoll über den Brillenrand. „Ich hatte leise gesagt.“ Stattdessen hätten die Männer die Lautstärke kaum verändert. Noch einmal. „Manchmal denk ich, wir sind verloren“, klingt es – dieses Mal ganz leise, aber deutlich. Schumacher, der am Klavier begleitet, lächelt. Einige Takte weiter: „Vater unser, der du bist, geheiligt werde dein Name.“ Schumachers Kopfnicken bedeutet: „Jetzt dürft ihr lauter werden.“ Ein volltönendes, vierstimmiges Glaubensbekenntnis lässt den Raum vibrieren. Noch ein letztes „Aaaaamen“, und das Erfolgslied von Hanne Haller ist verklungen. Schlager? Modernes Kirchenlied? Egal, donnerstagabends in diesem Saal gibt es nur zwei entscheidende Kategorien: „Klappt“ oder „klappt nicht“. Dieses klappt.
Draußen verabschiedet sich einer der letzten Spätsommertage. Drinnen weihnachtet es bereits. Am dritten Adventssonntag, 17. Dezember, um 16 Uhr, beginnt in der Capeller Kirche das traditionelle Weihnachtskonzert, neben dem alle zwei Jahre stattfindenden Sommerkonzert ein fester Termin im Veranstaltungskalender. „Das ist hier in Capelle tatsächlich etwas ganz Besonderes“ sagt Schumacher, der seit mehr als 50 Jahren in der Region Chöre leitet. „Ein extrem musikalisches Dorf. Die Menschen machen und mögen Musik.“ Wer nicht singe, spiele in der Blaskapelle – oder beides.
Heinz Ringelkamp ist bei Konzerten ein Routinier, Enkel Nico wird es dagegen erst noch erleben: was Lampenfieber bedeutet und wie herrlich tosender Applaus ist. Seit fast 100 Jahren gestalten die Sänger des MGV das öffentliche Leben in ihrem Ort musikalisch mit. Die Vorfahren hatten den Verein am 30. November 1919 gegründet, fünf Tage nach dem Beschluss gegen eine Eingemeindung Capelles nach Werne.
Immer offen für Neues
Was das Erfolgsgeheimnis des Chores seitdem ist? Vorsitzender Gregor Focke (39) zuckt mit den Schultern. „Vielleicht, dass wir uns immer weiterentwickeln“, sagt er. „Dass wir offen sind für neue Stücke und neue Ideen“ – und für neue Mitglieder sowieso. „Und dass bei aller Ernsthaftigkeit die Geselligkeit nicht zu kurz kommt.“
Schumi, wie alle den Dirigenten nennen, klatscht in die Hände. 60 der 90 Probenminuten sind vorbei. Höchste Zeit, das neue Stück zu probieren mit den vier Unter-18-Jährigen, den Über-80-Jährigen und den Männern dazwischen. Vorsitzender Focke setzt sich wieder auf seinen Platz links vorm Dirigenten und schlägt die Noten auf. Neben ihm: sein Vater. Und irgendwo zwischen den anderen drei Brüder. Der MGV ist eben eine Großfamilie, zu der jeder gehören kann. Generationenkonflikte bleiben zuhause oder lösen sich in Harmonie auf. Wer Lust hat, dabei zu sein, ist willkommen. Der Donnerstagabend ist ein guter Termin: 20 Uhr bei Wintering, Bahnhofstraße 20.