Zirkus-Flair zum Start „The Pulse“ von Gravity And Other Myths eröffnete die Ruhrfestspiele

Von Kai-Uwe Brinkmann
Zirkus-Flair zum Start
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Es war eine Deutschland-Premiere und eine Premiere für die Ruhrfestspiele, die am Freitag unter dem Motto „Vergnügen und Verlust“ begonnen haben: Artisten, Manegen-Flair und Schausteller-Akrobatik gab es noch nie zur Eröffnung. Geliefert wurde all das von der jungen australischen Zirkustruppe Gravity And Other Myths unter Leitung von Darcy Grant, „The Pulse“ heißt die Produktion.

Auf der Bühne des Großen Hauses tummeln sich 24 Performer, sportive Männlein und Weiblein. Sie tragen luftige Leibchen im Dresscode Grau. Bodengymnastik, Salto, Flic Flac sehen bei ihnen nach Aufwärmübung aus. Sie zelebrieren auch die Kunst des Falls, wenn ihre Körperbilder von atmender Gemeinschaft (organisch bis chaotisch) zerbröseln. Wenn Menschentürme aus drei Akrobaten wanken, kippen, stürzen. Elegant landet die oberste Dame auf Schultern oder rollt sich auf dem Boden ab, bevor das Licht ausgeht und dazu den optischen Tusch setzt.

Esther Kinsky
Esther Kinsky hielt die Eröffnungsrede bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. © de_Maddalena

Wunderbar auf die nachfolgende Show von Gravity And Other Myths abgestimmt war die Eröffnungsrede von Esther Kinsky (67, Foto), Übersetzerin und prämierte Autorin von mehr als 20 Romanen, Kinderbüchern, Lyrikbänden. Esther Kinsky nämlich redet über die Institution Zirkus. Über einen bestimmten Zirkus, den sie jahrelang in Südungarn sah, vom fahrenden Zug aus. Eine Jahrmarkts-Attraktion im Winterlager. An einem elenden Bauernhof in der Pampa gelegen, trug dieser Zirkus schon 1990 den Keim des Verschwindens in sich, wie Kinsky spürte.

Zelte, Wagen, Tiere stehen für eine Attraktion, die vom medialen Zirkus des Digitalen auf die hinteren Ränge verwiesen und beinahe gefressen wurde. Esther Kinsky hat das Siechtum des guten, alten, Gemeinschaft stiftenden Schausteller-Gewerbes beobachtet und macht sich Gedanken zum Verschwinden dieser Kultur und dieses Vergnügens. Womit sie das Motto der Ruhrfestspiele schön aufgreift und spiegelt.

Ode ans fahrende Volk

Die Rede war eine Ode an das fahrende Volk. An die räumliche und geistige Freiheit eines Lebens auf Achse. Eine Ode an das individualistische, anarchische Dasein von Tingeltangel-Künstlern und -Artisten. Deren Job es schon immer war, unser Leben mit Staunen, Zauber, Magie aufzuladen - vor unseren Augen, nicht per Glotze oder Handy. Ob im Ungarn der Wendezeit oder heute bei den Ruhrfestspielen. Zirkus als Unterhaltungsform fährt ja längst auf der Kulturschiene und bereichert schon seit vielen Jahren das Recklinghäuser Festival.

Nun also bringen uns Körperkünstler von „down under“ zum Staunen. Ihre Leiber wogen hin und her, organisch umfließen und umschmeicheln sie sich. Mal wirken Interaktion und Austausch synchronisiert, dann zerfällt die Ordnung in Zuckung und Gewusel.

Chor aus Dortmund

In choreografierten Schubsereien macht sich Aggression Luft. Aber das sind nur kleine Spitzen, ohne Harmonie und Timing läuft nichts in der Welt der Akrobatik. Präzision, Muskeln und Körperkontrolle sind Trumpf, wenn Mann und Frau den Körper eines Atlas besteigen, der beide auf den Schultern trägt. Gehende Türme, zwei Leute auf einem Dritten, kassieren den größten Applaus in Recklinghausen.

Zwei Dutzend und mehr Sängerinnen vom Konzertensemble der Chorakademie Dortmund begleiten die Vorführung musikalisch. Wohl aus der Idee heraus, die Zirkusshow tiefer im Kunstkontext zu verankern. Warum die Arrangements oft pastoral klingen mit ihrem „Spiritus sanctus“-Gesang? Nun, „The Pulse“ ist konzipiert als Metapher über Puls und Kreislauf der Natur, da liegen Abstecher ins Sakrale nahe. Was nichts daran ändert, dass die Erzählung hinter den Bildern nebulös bleibt. Gestaunt haben wir aber trotzdem.

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