„Wir müssen uns für Erdogan rechtfertigen“
Deutschland vor der Wahl
Die Väter sind in der Türkei geboren, ihre Söhne in Deutschland. Die Eltern reden über türkische Politik, die Kinder fühlen sich mehr deutsch als türkisch. Einig sind sie sich darin, dass die Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte fehlgeschlagen ist. Zwei Vater-Sohn-Paare diskutieren: Wie fühlen sich die rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln im Deutschland des Jahres 2017?
Das Gebet an diesem Freitagnachmittag ist vorbei, vor der Ditib-Moschee stehen Männer und rauchen, andere haben es sich in der Küche bequem gemacht. Der Imam sitzt mit einem Jungen im Gebetsraum. Vorstandsmitglied Muharrem Arslan (48) bittet ins Büro. Dort warten sein Sohn Salih Arslan (22), der in Siegen geboren und aufgewachsen ist, Önder Sahin (52), Bauingenieur und Vorsitzender des Siegener Integrationsrates, und dessen Sohn Kerim Sahin (21), Auszubildender in der Krankenpflege. Die beiden Vater-Sohn-Paare diskutieren darüber: Wie fühlen sich die rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln im Deutschland des Jahres 2017?
Sehen Sie sich als Deutsche oder als Türken?
Muharrem Arslan (48): Ich bin Türke, ich habe keinen deutschen Pass. Und ich fühle mich als Deutscher. Mein Vater kam als Gastarbeiter nach Siegen, ich bin seit fast 40 Jahren in Deutschland. Ich bin integriert, kann meine Raten bezahlen, uns geht es gut. Seit eineinhalb Jahren werde ich aber immer häufiger auf Erdogan angesprochen, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz – das nervt. Ich habe das Gefühl: Von mir wird erwartet, dass ich ihn verteidige.
Kerim Sahin (21): Ich erlebe das häufig im Krankenhaus: Wenn Patienten sagen: „Sie kommen ja nicht aus Deutschland“, dann sage ich: „Doch“. Sie sagen dann, ich wisse doch, wie man das meine. Klar, irgendwie hat man zwei Heimatländer; ich arbeite hier, hab‘ meine Freunde hier – und ich freue mich, wenn ich in die Türkei reise. Ich fühle mich in beiden Ländern wohl. Schade, dass man zur Zeit immer auf türkische Politik angesprochen wird.
Önder Sahin (52), geboren in Kayseri, Sohn eines Gastarbeiters, ist Ingenieur beim Landesstraßenbetrieb. Kerim Sahin (21), Sohn von Önder Sahin, Auszubildender in der Krankenpflege, ist in Siegen geboren. Fotos: Hendrik Schulz
Was sagt das über die Integration aus?
Önder Sahin (52): Als unsere Vorfahren nach Deutschland kamen, dachten alle: Das ist nicht von Dauer. Aber es dauerte immer länger. Politisch ist die Situation seit 50 Jahren ein Provisorium, es gab nie Integrationspolitik. Erst als die Flüchtlinge kamen, wurden Deutschkurse organisiert oder Ausbildungsstellen vermittelt, um ihnen das Ankommen zu ermöglichen. Der Staat und viele Freiwillige wurden aktiv. Wäre das damals mit den Gastarbeitern passiert, wären wir heute viel weiter. Ich fühle mich integriert, hier ist mein Zuhause. Wir sind Deutsche muslimischen Glaubens, mit türkischer Herkunft.
Salih Arslan (22): Wir fühlen uns in vielen Dingen mehr deutsch als türkisch, das kommt aufs Thema an. Die Generation meines Vaters spricht auch viel über türkische Politik, mich interessiert mehr die Politik in Deutschland: Das betrifft mich stärker.
Wäre heute eine gezielte Deutschtürken-Politik nötig?
Kerim Sahin (21): Es gibt so viele Menschen mit verschiedenen Wurzeln in Deutschland – für die kann man doch nicht alle Politik machen. Da gibt es wichtigere Themen.
Önder Sahin (52): Politik muss alle ansprechen. Versäumnisse der Vergangenheit haben sich mit der Zeit teils selbst erledigt. Aber es muss selbstverständlich sein, dass Muslime Teil der Gesellschaft sind. Vor dem Gesetz sind alle gleich, egal woher sie kommen, welcher Religion sie angehören.
Muharrem Arslan (48), geboren in Tekirdag, Sohn eines Gastarbeiters, ist Angestellter in einem Baumarkt. Salih Arslan (22), Sohn von Muharrem Arslan, Student der Wirtschaftsinformatik, ist in Siegen geboren. Fotos: Hendrik Schulz
Welche Erfahrungen haben Sie hier gemacht?
Önder Sahin (52): Jugendliche mit ausländischem Namen müssen viermal so oft Bewerbungen abgeben, bis sie zu einem Gespräch eingeladen werden. Das gehört nicht mehr in die heutige Zeit, in eine Gesellschaft, die multikulti ist – ob man will oder nicht.
Kerim Sahin (21): Ich finde es traurig, dass ein Unterschied zwischen Deutschen und Türken gemacht wird. Es gibt Deutsche mit unterschiedlichen Wurzeln. Aber es fehlt die Akzeptanz. Die Menschen können andere Meinungen kaum noch respektieren. Das hat sich in letzter Zeit noch verstärkt.
Salih Arslan (22): Viele Deutsche fragen nach meiner Meinung zu Erdogan und stecken mich aufgrund meiner Antwort in eine Schublade. Wenn ich bestimmte Sachen gut finde, bin ich für sie nicht integrierbar. Wenn ich ihn kritisiere, akzeptieren sie mich.
Önder Sahin (52): In den letzten Jahren, so unser Eindruck, wurde nur noch negativ über die Türkei berichtet – ich kann’s nicht mehr hören. Wenn bei der Arbeit der Name „Erdogan“ fällt, würde ich am liebsten weglaufen. Vielleicht hat das zu einer Trotzreaktion geführt. Denn alle wissen, er macht Fehler. Viele denken: Die Aussagen zu Deutschland waren schon daneben, das geht eigentlich nicht.
Muharrem Arslan (48): Man muss sich aber immer wieder rechtfertigen.
Salih Arslan (22): Jeder, der für oder gegen das Präsidialsystem war, hatte einen Grund. Das muss man nicht teilen, aber akzeptieren.
Kerim Sahin (21): Fast die Hälfte der Bevölkerung hat nicht für die Verfassungsänderung gestimmt. Auch in meinem Freundeskreis wurde das kontrovers diskutiert.
Salih Arslan (22): Viele deutsche Medien berichten einseitig über die Türkei. Wir sehen das aber aus mehreren Blickwinkeln, wir erleben die Situation selbst vor Ort. Es gibt auch Pro-Argumente.
Leben viele Türken in Deutschland in einer Parallelgesellschaft?
Kerim Sahin (21): Mir wurde im Krankenhaus schon gesagt: „Ihr schottet Euch ja ab.“ Es geht nicht um Religion, politische Meinung oder Herkunft, sondern um Menschen! Menschen sind individuell. Das macht die Gesellschaft ja aus. Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn alle gleich wären.
Önder Sahin (52): Die einen müssen sich bemühen, sich zu integrieren, die anderen müssen sich bemühen, die Neuen zu akzeptieren. Wenn immer wieder kommt „Dein Erdogan“ – wieso „mein“? Erdogan ist nicht mein Präsident. Ich bin deutscher Staatsbürger. Meine Bundeskanzlerin heißt Merkel. Dieses Klischee: Du kommst daher, also gehörst du auch dahin …
Salih Arslan (22): Man schließt eine ganze Religion aus.
Kerim Sahin (21): Man schließt Millionen von Menschen aus. Wir gehören nicht zu Deutschland? Wir zahlen Steuern, arbeiten, leben hier – man kann doch nicht sagen, dass wir nicht dazugehören.
Was wünschen Sie sich denn von der Politik?
Önder Sahin (52): Dass sie sich der Infrastruktur widmet, die Akzeptanz aller gesellschaftlichen Gruppen stärkt und Ungerechtigkeiten abbaut. Warum denkt man nicht über Migrantenquoten nach? Es gibt Städte mit 15, 20 Prozent Migrantenquote, aber in der Verwaltung sind es vielleicht zwei bis drei Prozent. Frauen werden doch auch bei gleicher Eignung bevorzugt.
Fühlen Sie sich von türkischstämmigen Politikern besser vertreten?
Önder Sahin (52): Viele türkischstämmige Kandidaten haben religiös und kulturell kaum noch Kontakt zur Community, die sie vertreten wollen: Sie sind eher überintegriert.
Die vertreten ja auch die gesamte Bevölkerung ihres Wahlkreises. Cemile Giousouf (CDU), die erste muslimische Direktkandidatin für den Bundestag, ist Abgeordnete für ganz Hagen, und nicht nur die der Deutschtürken.
Önder Sahin (52): Sie hat vor der Bundestagswahl 2013 versucht, in der muslimischen Gemeinschaft Stimmen zu gewinnen. Sie war in jeder Moschee, aber nach der Wahl wurde sie nie mehr gesehen.
Salih Arslan (22): Das Problem ist doch: Menschen mit niedrigerem Bildungsstand werden noch politikverdrossener. Die Zustimmung zur Demokratie sinkt, viele wählen nicht mehr und sagen, es ändere sich ja doch nichts. Demokratie ist der wichtigste Grundpfeiler Deutschlands, der auf jeden Fall bewahrt werden muss.
Kerim Sahin (21): Nichtwählen ist keine Option. Man hat doch nichts zu verlieren, versuch es! Wählen kostet nichts und ist eine Sache von einer Minute.
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