Wie sich das Land unter einer Grünen-Kanzlerin verändern würde
Bundestagswahl 2021
Wenn es nach den aktuellen Umfragen geht, wird Annalena Baerbock die nächste Bundeskanzlerin. Was würde sich ändern, wenn die Grünen erstmals die Regierung übernähmen?

Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock mit dem Motto ihrer Partei für den Bundestagswahlkampf. © picture alliance/dpa
Manchmal bekommen Zahlen eine Art magischen Glanz. Den Grünen geht das gerade so mit der 26.
26 Prozent Zustimmung ermittelt die Forschungsgruppe Wahlen in ihrer aktuellen Umfrage zur Wahlpräferenz, auf 26 Prozent kommen Infratest Dimap und auch Emnid. Das Forsa-Institut legt noch etwas drauf: 28 Prozent sind es hier. Es ist nicht nur ein historisches Hoch für die Grünen. Sie haben damit auch die Union überholt und sich den ersten Platz in den Umfragen gesichert. Viereinhalb Monate vor der Bundestagswahl.
Wären die Umfragen Wahlergebnisse, hätten die Grünen rund 40 Jahre nach ihrer Gründung zum ersten Mal die Bundestagswahl gewonnen. Auch bei einer Direktwahl: Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock schneidet in diesen Umfragen oft besser ab als ihre Konkurrenten Armin Laschet von der CDU und Olaf Scholz von der SPD.
„Alles ist drin“, so haben die Grünen vor Wochen selbstbewusst ihren Wahlprogrammentwurf betitelt. Erfolgreiche Koalitionspartnersuche vorausgesetzt, würde Parteichefin Annalena Baerbock Bundeskanzlerin – mit 40 Jahren die jüngste in der Geschichte des Landes, die erste Mutter, die erste Grüne. Eine Premiere auf vielen Ebenen. Was würde sich verändern?
Grüne wollen sozialökologische Marktwirtschaft
Fragt man die Union, den rudernden Hauptkonkurrenten, stünde ein Drama bevor, eine „linke Republik“ nämlich, wie der CDU-Generalsekretär vor Kurzem der „Neue Zürcher Zeitung“ gesagt hat, mit „Bremsklötzen und Straßensperren für das gesamte Land“. In einem Argumentationspapier vergleicht die Partei die Grünen-Ideen mit einem giftigen Fliegenpilz.
Fragt man die Grünen, klingen sie mal radikal, mal beschwichtigend. „Wir wollen nicht alles ändern“, sagt Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock bei einem Auftritt in der US‑Denkfabrik Atlantic Council in der vergangenen Woche.
Ihr Co‑Parteichef Robert Habeck versichert am Montag, man werde an den Grundpfeilern der Republik nichts ändern: Die Mitgliedschaft in der Nato bleibe und Deutschland müsse als Industrieland erhalten bleiben. Es ist eine Spitze gegen die Linkspartei, die an diesem Tag ihre Spitzenkandidaten kürt. Aber es ist auch eine Selbstvergewisserung der besonderen Art: Nato und Schwerindustrie – das ist nicht schon immer gut zusammengegangen mit den Grünen.
Bei ihrem Auftritt vor dem Atlantic Council wird Baerbock dann doch noch drastischer: Es habe in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einen Umbruch gegeben und dann noch einmal mit der Wiedervereinigung, sagt Baerbock. Nun sei man wieder an einer Weggabelung, mit dem Versuch, das Land klimaneutral zu machen. Es gehe darum, das System zu ändern, sagt Baerbock: Die soziale soll zur sozialökologischen Marktwirtschaft werden.
Das klingt so revolutionär wie sperrig. Aber so viel ist sicher: Klimapolitik stünde für die Grünen im Zentrum, sozial gerecht soll es dabei zugehen und am besten sollen alle Bürger mitgenommen werden. Konsens also statt Ellbogen. Andere Inhalte, anderer Politikstil, das versprechen die Grünen.
Werden Autos verboten?
Damit der Klimaplan der Grünen gelingt, muss viel ineinander greifen: Die erneuerbaren Energien müssen ausgebaut, der Verkehr anders organisiert werden, der CO₂-Preis müsste steigen. Die Assoziationen der politischen Gegner sind schnell an der Hand: flackernde Lichter, Autoverbot, höhere Kosten für alle. Wirklich?
Nein, sagt Baerbock. Sie sei selbst auf dem Land aufgewachsen und wisse, dass man da ein Auto brauche, zumindest solange der Nahverkehr nicht vernünftig funktioniere. Bis das so weit sei, werde es dauern. Also: Autos bleiben, ab 2030 allerdings sollen zumindest die Neuwagen keine Dieselmotoren mehr haben. Damit die Autoindustrie das schafft, planen die Grünen staatliche Unterstützungsprogramme.
Auch für die Grundstoffindustrie, die Stahl- und die Zementbranche, in der viel Energie verbraucht wird und viel CO₂ anfällt, soll es staatliche Unterstützung für den Umbau geben – und zwar möglichst schnell. Die Grünen gehen davon aus, dass die Unternehmen mitmachen – auch weil sie mit klimaneutralen Produkten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber etwa Billigstahl aus China hätten, mit dem sie preislich schon heute kaum mehr mithalten können.
Mehr Windräder würde es mit einer Kanzlerin Baerbock wohl geben, weil die Grünen die Abstandsregeln zu Siedlungen abschwächen wollen. Und mehr Sonnenkollektoren auf Dächern, die grün-schwarze baden-württembergische Regierung hat das bereits vorgemacht – und damit auch im CSU-regierten Bayern Anklang gefunden.
Für den Verbraucher bedeutete ein höherer CO₂-Preis höhere Heizkosten – allerdings soll ein staatliches Energiegeld für einen Ausgleich sorgen. Schluss ist mit dem Rasen auf Autobahnen: Hier gilt in einer grünen Republik Tempo 130. Und das neue Handy kommt künftig mit Pfand – damit es nach dem Ausrangieren auch wirklich recycelt wird.
Superministerium aus Wirtschaft, Umwelt und Verkehr
Ein Superministerium aus Wirtschaft, Umwelt und Verkehr böte sich da an, Co‑Parteichef Robert Habeck, der in Schleswig-Holstein Umweltminister war, könnte es übernehmen. Auch der Grünen-Fraktionsvorsitzende und Verkehrsexperte Anton Hofreiter, einer der zentralen Vertreter des linken Parteiflügels, dürfte für ein Ministerium infrage kommen.
Bei den Grünen heißt es, man habe bereits viele Kontakte zur Wirtschaft geknüpft, die warte nur auf ein Startsignal. Die Stellungnahme des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) zum Grünen-Wahlprogramm ist allerdings ein Verriss: „Viel Schatten, wenig Licht“ gebe es und zu viele Verbote und Vorgaben, Zerrbilder, „dirigistische Preissetzungsmechanismen“ und außerdem „Misstrauen gegen marktwirtschaftliche Akteure“. Und Frauen fördere man im Übrigen schon. Nach einem freundlichen Angebot klingt das nicht.
Da könnte es in einem anderen Bereich etwas einfacher werden. Das Verhältnis der Gewerkschaften zur SPD hat durch die Agenda 2010 gelitten, der Niedergang der Sozialdemokraten hat die Suche nach neuen Ansprechpartnern nötig gemacht.
Die Grünen versprechen das Ende vom Agenda-2010-Kernprodukt Hartz IV, die neue Garantiesicherung soll keine Sanktionen mehr vorsehen. Die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen könnte schnell geändert werden, auch die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro haben mehrere Parteien im Programm.
Wer wird Finanzminister?
Wer sehr gut verdient, bekommt künftig etwas weniger heraus: Es gibt höhere Steuersätze für Jahreseinkommen ab 100.000 und ab 250.000 Euro. Auch eine Vermögenssteuer ist geplant. Auch als Finanzminister käme Habeck infrage, die Finanzexpertin der Fraktion und frühere Hamburger Senatorin Anja Hajduk hat ihren Rückzug aus dem Bundestag angekündigt, bräuchte aber für ein Ministerium kein Mandat.
Ein Finanzminister oder eine -ministerin hätte auch eine andere schwierige Aufgabe: Für die Finanzierung der milliardenschweren Investitionsprogramme soll die Schuldenbremse umgebaut werden. Weil diese im Grundgesetz steht, müssten auch die Bundesländer zustimmen. Und die Union gebärdet sich zumindest bislang noch als strikter Gegner eines solchen Schrittes – regiert sie in Berlin nicht mit, dürfte die Kooperationsbereitschaft noch geringer werden.
Interessant sind die Punkte, an denen die Grünen versuchen, nicht allzu radikal zu wirken. Dem Wunsch der Grünen Jugend nach einem Mietendeckel ist die Parteispitze bislang nicht nachgekommen, sie plädiert für eine etwas verschärfte Mietpreisbremse, die den Anstieg der Mieten nicht stoppt sondern verlangsamt. Und bei der Polizei brauche es mehr Personal.
Abschiebungen wird es auch mit den Grünen geben. Das Drängen auf eine humanere europäische Flüchtlingspolitik wird in der EU nicht einfacher. Allerdings könnten die Grünen Städten und Ländern erlauben, selbstständig Flüchtlinge etwa von den griechischen Inseln aufzunehmen.
Soll das ein erster grüner Bundesinnenminister übernehmen? Bei den Grünen gibt es die, die das als Möglichkeit zum Umsteuern begreifen und die, die dabei zu viele innerparteiliche Konflikte sehen.
Schärferer Russland-Kurs
Wenn es nach Baerbock geht, kommt aus dem Auswärtigen Amt demnächst ein diplomatisches Ideenfeuerwerk. „Wenn wir passiv sind, wird es schwer für andere“, so sagt sie das. Einen strengeren Zug will Baerbock in die Russland-Politik bringen: Sie will den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 stoppen und geht damit auf Kurs der USA und der EU.
Überhaupt die USA: Hier gilt die Ansage Freundlichkeit. Baerbock fordert nicht den US‑Truppenabzug aus Deutschland, sagt nur, dass Doppelstrukturen vermieden werden sollten. Genauso wie in der Nato: Geld fürs Militär gäbe es auch von den Grünen, aber es soll zielgerichteter eingesetzt werden. Das vor Jahren festgelegte Zwei-Prozent-Steigerungs-Ziel will Baerbock der Nato ausreden. Auslandseinsätze der Bundeswehr gäbe es mit Uno-Mandat weiter.
Baerbock spricht oft vom „Beginn einer neuen Epoche“, von mehr Weitsicht und langfristigen Konzepten. Viel wird dabei auch vom Koalitionspartner und vom Verhandlungsgeschick abhängen – und eben auch von der Finanzierbarkeit. Mit der Union könnte es vor allem in der Finanzpolitik Probleme geben, mit der Linkspartei in der Außenpolitik, FDP und SPD könnten beim Klimaschutz bremsen.
Für alle, die von Umbrüchen nicht so viel halten, hat Baerbock bei einem Parteitag im Dezember einen Bibelspruch ausprobiert: „Fürchtet euch nicht.“ Eine Veränderung übrigens wäre nur indirekt bei den Grünen angesiedelt. Bei CDU/CSU wird eine Niederlage bei der Bundestagswahl einen internen Kampf auslösen, der auch bei einer Regierungsbeteiligung an die Existenz gehen kann.
RND
Der Artikel "Wie sich das Land unter einer Grünen-Kanzlerin verändern würde" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.